Die Würde und das Wohl von Kindern und Jugendlichen als einer vulnerablen Bevölkerungsgruppe muss besonders geschützt werden. Betrachtet man die Angaben des Statistischen Bundesamtes über die Anzahl und Gründe von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland, so wird die Wichtigkeit des Mittels der Inobhutnahme als letzte Konsequenz deutlich. Da diese in die Persönlichkeitsrechte von Menschen eingreift, ist sie nur unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen möglich und auch zwingend notwendig, um das Wohl eines Kindes zu schützen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Beurteilung einer Kindewohlgefährdung eine große Herausforderung und Verantwortung für Sozialarbeiter*innen darstellt, zu entscheiden, ob eine Inobhutnahme das geeignete Mittel ist, um das Wohl des Kindes zu schützen.
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
2. Inobhutnahme, gesetzliche Grundlagen
3. Fallbeispiele für eine Inobhutnahme
4. Ethische Konfliktlagen einer Inobhutnahme
5. Begriffserklärungen
5.1. Kindeswohl, Kinderrechte
5.2. Kindeswille
5.3. Elternrecht
6. Diskussion der Konfliktlage
7. Fazit
1. Einleitung
„Im Schnitt sterben in Deutschland drei Kinder pro Woche aufgrund von Gewalt oder Vernachlässigung. Gerade wenn Familien in Stresssituationen geraten, ist das Kindeswohl oft gefährdet.“ (Forumverlag o.J.)
Das statistische Bundesamt hat für das Jahr 2019 55.500 Fälle von Kindeswohlgefährdungen registriert. Diese teilten sich in ihrer Art wie folgt auf: Vernachlässigung 45%, psychische Misshandlungen 16%, körperliche Misshandlung 15%, sexuelle Gewalt 4% und mehrere Gefährdungsarten gleichzeitig 20%. (vgl. statistisches Bundesamt 2019)
Diese Statistik zeigt die Relevanz der Inobhutnahme als notwendige Interventionsmaßnahme des Staates zum Schutz von Kindern und Jugendlichen auf. Dieser einfache Satz beinhaltet jedoch enormes Konfliktpotential. Genau dieses Spannungsfeld zwischen Elternrecht, Kindeswohl und Kindeswille wird in dieser Arbeit unter dem Aspekt gesetzlicher Vorgaben ethisch diskutiert. Zunächst wird der Begriff der „Inobhutnahme“ erläutert. Schon hier ergibt sich die ethische Frage nach „moralisch gutem Handeln“ im Kontext eines massiven Eingriffs in die Selbstbestimmung der Eltern und ihrer Kinder. Durch drei verschieden gelagerte Fallbeispiele wird die Notwendigkeit einer individuellen Beurteilung veranschaulicht. Im Anschluss daran wird die ethische Konfliktlage dargelegt. Teil dessen ist die Auseinandersetzung der Bedeutung der Ethik, insbesondere für den Bereich der Sozialen Arbeit. Darauf folgt eine genauere Erörterung der Begriffe „Elternrecht“, Kindeswohl“ und „Kindeswille“. Beim Elternrecht werden auch die Grenzen desselben herausgestellt, sobald das Kindeswohl gefährdet ist. Der Begriff des Kindeswohls ist vom Gesetzgeber nicht genau bestimmt. Hier wird unter anderem die Definition von Maywald zugrunde gelegt. Neben den Aspekten des Schutzes und der Förderung spielt dabei auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an den sie betreffenden Maßnahmen eine bedeutende Rolle. Beim Begriff des Kindeswillens wird dessen Stellenwert im Falle einer Inobhutnahme in Relation zu Alter und Reife des jeweiligen Kindes behandelt. Einer Diskussion der Konfliktlage, bei der diese drei Begriffe einander gegenübergestellt und bewertet werden folgt das Fazit, in welchem die elementaren Kernaussagen der Arbeit zusammengefasst werden.
2. Inobhutnahme, gesetzliche Grundlagen
Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen; im Fall von Satz 1 Nummer 2 auch ein Kind oder einen Jugendlichen von einer anderen Person wegzunehmen. (§42 Abs. 1 Satz GB VIII)
Der Gesetzgeber ermöglicht die Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus ihren Familien, sofern bestimmte Ereignisse eingetreten sind, die ein solches Eingreifen zum Schutz und Wohl des Kindes nötig machen.
Der Staat ist nicht nur zur Intervention befugt, sondern gemäß Art. 6 Abs. 2 GG dazu verpflichtet, wenn Eltern ihre Elternverantwortung nicht wahrnehmen oder die Grenzen ihres Elternrechts überschreiten. Kindesschützende Maßnahmen, die der Staat gegen den Willen der Eltern ergreift, müssen vom Staat immer nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfolgen, da sie in diesem Fall einen Eingriff in das Elternrecht darstellen. Elterliches Verhalten ist nicht durch das Elternrecht geschützt, sofern es die Grenzen des Kindeswohls überschreitet. Der Staat greift hier mit Interventionen, die von den Eltern nicht gewollt sind, in das Elternrecht ein, um weitere Kindeswohlgefährdungen in der Zukunft zu verhindern. Die Trennung eines Kindes von seiner Familie gegen den elterlichen Willen stellt eine besonders gravierende Maßnahme dar. Für diesen Fall enthält Art. 6 Abs. 3 GG zusätzliche Vorgaben. Die Herausnahme des Kindes muss zum einen auf einer gesetzlichen Grundlage erfolgen, zum anderen muss ein Versagen der Erziehungsberechtigten vorliegen oder die Verwahrlosung des Kindes aus anderen Gründen drohen. Man spricht von einer gegenwärtigen und schweren Gefährdung des Kindeswohls. Eine solche Gefährdung liegt vor, wenn eine Trennung vom bisherigen familiären Umfeld zur Vermeidung weiterer Fehlentwicklungen unerlässlich ist, weil der körperliche, seelische oder geistige Zustand des Kindes nicht der Norm entspricht. (vgl. Kindler et al. 2006: 3-4)
Da eine Inobhutnahme einen tiefen Eingriff in die Selbstbestimmung aller Beteiligten bedeutet, hat der Gesetzgeber genaue Voraussetzungen geschaffen, die eine Willkür der Entscheider und weitere Gefahren für das Wohl des Kindes verhindern sollen.
Wichtig ist auch, dass der Schutz von Kindern nicht abhängig sein darf von individuellen Arbeitszeiten der Städte und Gemeinden. Aus diesem Grund muss ein ständiger Bereitschaftsdienst des Jungendamtes Tag und Nacht gewährleistet sein, damit jederzeit eine potenzielle akute Kindeswohlgefährdung überprüft und ggf. über eine sofortige Inobhutnahme entschieden werden kann. Zusätzlich müssen Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, selbst um Inobhutnahme durch die öffentliche Jugendhilfe bitten zu können, auch gegen den Willen der Personensorgeberechtigten. (vgl.Trenczek 2019: Rn 14 z.n. Neumann/Witt 2020: 39) Die Maßnahme der Inobhutnahme durch das Jugendamt ist immer nur vorläufig. Eine dauerhafte Lösung wird jedoch angestrebt. Diese kann die Klärung der häuslichen Situation bedeuten oder die Unterbringung in einer Pflegefamilie, einer Einrichtung oder in einer betreuten Wohngemeinschaft. Eine Rückkehr des Kindes in seine Familie kann nur erfolgen, wenn sich die Eltern zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt bereit zeigen und somit die Aussicht auf eine Verbesserung der häuslichen Situation besteht. (vgl. Verfahren: Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen o. J.)
3. Fallbeispiele für eine Inobhutnahme
Es folgen drei konkrete Fallbeispiele, anhand derer der ethische Konflikt zwischen Kindeswohl, Elternrecht und Kindeswille aufgezeigt wird. Die Fälle sind sehr unterschiedlich und machen deutlich, wie wichtig eine genaue und individuelle Beurteilung für eine ethisch vertretbare Entscheidung ist.
Beispiel 1:
Die Eltern kümmern sich nicht um ihre 12jährige Tochter. Die Tochter führt überwiegend den Haushalt und wirkt sehr verstört. Wenn sie morgens zur Schule geht, liegen die Eltern oft noch betrunken im Bett. Der Vater schlägt Mutter und Tochter oft aus nichtigen Anlässen. Das Gericht hat den Eltern das Aufenthaltbestimmungsrecht für ihr Kind entzogen. Nun hat sich die Tochter an das Jugendamt gewandt und um die Unterbringung in einem Heim gebeten. Die Eltern sind gegen die Maßnahme. (vgl. GRIN - Praktische Falllösung im Kinder- und Jugendhilferecht o. D.)
In diesem Beispiel wird veranschaulicht, dass die elterliche Autonomie dort endet, wo das Wohl des Kindes gefährdet ist. Der Kindeswille stimmt hier mit der staatlichen Interventionspflicht überein.
Beispiel 2:
Sabrina beschreibt ihre Erfahrungen aus DDR-Zeiten so: „Eines Tages ging ich dann inne Schule, saßen wir auch schon im Unterricht, und damals war meine Direktorin Frau Kochner aus der Hilfsschule und kam sie in die Klasse rein und hat gesagt: „Sabrina, komm mal mit, das Jugendamt ist da´. Ich erstmal ´n Schreck bekommen, wusste schon irgendwie wieder Bescheid, was los war. Hat mir das Jugendamt erzählt, dass (sie) meine Mutter angeblich zwischen zwei besoffenen Männern umhertorkelt gesehen haben. Und das war ´n Schock, und da hieß es dann: „Sabrina, du musst weg von Greifswald, weg, von deine Mutter, weg von deinen Geschwistern“ (Wolf 2002: 96 z.n. Inobhutnahme 2020: 91) Aus diesem Bericht ergibt sich, dass Sabrina das Jugendamt nicht unbekannt war. Sie ahnte bereits, dass es zu einer Inobhutnahme kommen würde. Die Situation der Mutter scheint so prekär gewesen zu sein, dass akuter Handlungsbedarf bestand, um Sabrinas Wohlergehen zu schützen. Deswegen spielte hier offenbar der Kindeswille eine untergeordnete Rolle.
Beispiel 3:
Nachdem sich die Eltern des kleinen Joshua getrennt hatten, erhält der Vater Randy das Sorgerecht und zieht mit seinem Sohn in einen anderen Bundesstaat. Joshua ist drei Jahre alt, als das staatliche Sozialamt erste Hinweise auf eine Misshandlung erhält. Die Beweislage ist aber zu schwach für eine weitere Verfolgung. Ein Jahr später wird Joshua in Obhut genommen, nachdem an seinem Körper auffällige Quetschungen und Hautabschürfungen festgestellt wurden. Ein Mitarbeiter des Kinderschutzteams hält die Anzeichen für eine Kindesmisshandlung nicht für ausreichend und empfiehlt bereits nach drei Tagen die Rückführung des Kindes zu seinem Vater. Einen Monat später werden weitere auffällige Verletzungen vom ärztlichen Notdienst gemeldet und aktenkundig – ohne Konsequenzen. Die Behörde bleibt auch weiter passiv, als sie bei den monatlichen Hausbesuchen auffällige Kopfverletzungen feststellt. Einige Monate später berichtet eine Sozialarbeiterin erneut über auffällige Verletzungen. Dem Vater gelingt es, durch fadenscheinige Argumentation den monatlichen Visiten zu entgehen. Als Joshua vier Jahre alt ist, schlägt Randy seinen Sohn in ein lebensbedrohliches Koma und fügt ihm schwerste bleibende Hirnschäden zu. Eine Notoperation offenbart weitere schwere Kopfverletzungen über einen langen Zeitraum. Joshua benötigt lebenslange institutionelle Betreuung. Sein Vater Randy wird wegen Kindesmisshandlung verurteilt. (vgl. Ethikjournal 2013:7-8)
Hier geraten Grundrechte in einen Konflikt miteinander: einerseits das Recht des Vaters auf Pflege und Erziehung seines Sohnes und andererseits das Recht seines Sohnes auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die im Nachhinein offensichtliche Fehleinschätzung der beteiligten Sozialarbeiter*innen, führte hier zu einem großen Drama. Warum aufgrund der vielen Anhaltspunkte für eine Misshandlung nicht eingeschritten wurde, kann hier nicht geklärt werden.
4. Ethische Konfliktlagen einer Inobhutnahme
In Kapitel 2 wurde der Begriff der Inobhutnahme vor allem aus der rechtlichen Perspektive erläutert. Durch die Fallbeispiele in Kapitel 3 sind bereits ethische Spannungssituationen bei einer Inobhutnahme sichtbar geworden. Um die ethische Konfliktlage derselben genauer verdeutlichen zu können, wird an dieser Stelle einerseits der Begriff „Ethik“ erklärt und andererseits die entscheidenden Faktoren einer Inobhutnahme beleuchtet. Dies bereitet die Grundlage für eine Diskussion der ethischen Konfliktlage in Kapitel 5.
Die Ethik beschäftigt sich mit Motiven, Methoden und Folgen menschlichen Handelns. Sie ist von der Frage geleitet, wodurch ein gelingendes Leben der Einzelnen bzw. ein gutes Zusammenleben gekennzeichnet ist. Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) prägte den Begriff der Ethik. Er verwendete das Adjektiv „ethicos“, welches sich vom Substantiv „Ethos“ ableitet. Ethos beinhaltet Sitten, Gewohnheiten, aber auch individuelle Gesinnung, Haltung und Einstellung. Offenbar verstand sich schon zu Zeiten von Aristoteles vieles nicht mehr von selbst. Genauso gibt es in heutigen Gesellschaften keine zweifelsfreien Auffassungen mehr darüber, was das Gute und Gelingende ist. Folglich ist eine Auseinandersetzung über menschliche Handlungsweisen und deren guten und richtigen Motive erforderlich. (vgl. Spitzer et al. 2011: 112-113) Die International Federation of Social Workers (IFSW) stellt fest, dass Soziale Arbeit auf der Achtung vor dem besonderen Wert und der Würde aller Menschen und aus den sich daraus ergebenden Rechten basiert. Aufgabe von Sozialarbeiter*innen sei es, die körperliche, seelische, emotionale und geistige Integrität, sowie das Wohlergehen jedes Menschen zu wahren und zu verteidigen. (vgl. IFSW: 2) Im Licht dieser Perspektive sollen nun die ethischen Konfliktlagen einer Inobhutnahme dargelegt werden:
Eine weit verbreitete gesellschaftliche Sicht auf eine Inobhutnahme ist die eines unangemessenen Eingreifens in die Privatsphäre einer Familie. Dieser Ansicht liegt oft die Annahme zugrunde, dass die Eltern grundsätzlich am besten auf die individuellen Bedürfnisse ihres Kindes eingehen können. Von daher seien Kinder bei ihren Eltern am besten aufgehoben. Dass dies mitnichten immer zutrifft, ist unschwer an den Fällen zu erkennen, bei denen auf eine Inobhutnahme verzichtet wurde - mit tödlichen Folgen für das Kind. Durch Presse und Fernsehen erreichten diese dramatischen Fehlentscheidungen auch eine breitere Masse der Öffentlichkeit. Somit hat die Inobhutnahme als eine unerlässliche Schutzmaßnahme ein differenzierteres Verständnis in der breiten Bevölkerung und beim Gesetzgeber gefunden, der im Oktober 2005 dem SGB VIII den § 8a hinzufügte, welcher das Verfahren zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung konkretisiert. (vgl. Ethikjournal 2013:6)
Ein Konflikt liegt darin, dass den verantwortlichen Personen, die darüber zu entscheiden haben, ob eine Inobhutnahme unbedingt notwendig ist oder eher schadet, keine normative Definition des Begriffs „Kindeswohl“ bzw. „Kindeswohlgefährdung“ zur Verfügung steht. Sehr wohl gibt es bestimmte Kriterien und verschiedene Versuche, alle relevanten Faktoren zu berücksichtigen, jedoch bedarf letztlich jeder Einzelfall einer individuellen Einschätzung der Behörden. Ein weiterer Konflikt besteht in der Beurteilung selbst. Das Kindeswohl hat zwar einen juristischen Vorrang vor den Rechten der beteiligten Personen, kann aber ohne Einbeziehung der Elternrechte, des Elternwillens und des Kindeswillens nicht umfassend beurteilt werden. In der UN-Kinderrechtskonvention wird der Vorrang des Kindeswohls formuliert:
„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gericht, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“. (Art. 3 Abs. 1)
Aus der Natur der Sache ergibt sich die Situation, dass in den meisten Fällen der Wille der Eltern einer Inobhutnahme entgegensteht. Geht eine unmittelbare Gefahr für das Leben des Kind direkt von den Eltern aus, so ist eine Beurteilung diesbezüglich nicht schwierig. Problematische hingegen ist die Situation eines Kindes, bei dem eine Inobhutnahme angestrebt wird, das Kind jedoch naturgemäß bei seinen Eltern bleiben möchte. Hier ergibt sich die Frage, ob im gegebenen Einzelfall eine Trennung von der Familie mehr Schaden (z.B. durch eine weitere Traumatisierung) zur Folge hätte, als wenn das Kind weiterhin in der Familie verbleiben würde. Dieser Konflikt gewinnt mehr Bedeutung je älter das Kind und damit bereits in der Lage ist, die eigene Situation realistisch zu beurteilen. Eine genaue Analyse der Situation und der Beziehungsstrukturen unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit ist hier vonnöten. Eine Inobhutnahme erfolgt auch gegen den Willen des Kindes, sofern dieses die eigene Situation aufgrund des geringen Alters oder mangelnder Urteilsfähigkeit nicht realistisch einschätzen kann. (vgl. Kindeswille als Entscheidungsgrundlage, 2021)
5. Begriffserklärungen
5.1. Kindeswohl, Kinderrechte
„Wegen seiner mangelnden körperlichen und geistigen Reife [bedarf das Kind] besonderen Schutzes und besonderer Fürsorge, insbesondere eines angemessenen rechtlichen Schutzes vor und nach der Geburt.“ (Menschenrechte 2013)
Der Begriff „Kindeswohl“ ist im Grundgesetz nicht zu finden. Ebenso gibt es dort keinerlei Grundrechte, die sich speziell auf Kinder und Jugendliche beziehen. Dennoch hilft das Grundgesetz, den Begriff „Kindeswohl“ zu konkretisieren. Kinder und Jugendliche sind gleichsam Inhaber von Grundrechten, wie Erwachsene. Auch sie sind Personen mit eigener Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG), dem Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), dem Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Recht auf Schutz ihres Eigentums und Vermögens (Art. 14 Abs. 1 GG). Das Alter oder der Reifegrad eines Menschen spielt hier keine Rolle. Zwar gibt es die „Grundrechtsmündigkeit“, diese bezieht sich jedoch lediglich auf die Fähigkeit, die eigenen Grundrechte, abhängig von Alter und Einsichtsfähigkeit, geltend machen zu können. Sie spricht Unmündigen in keiner Weise ein Grundrecht ab. Zunächst definieren Grundrechte die Ansprüche von Menschen an den Staat – unabhängig davon, ob es sich um ein Kind oder einen Erwachsenen handelt. Für Kinder und Jugendliche ergeben sich zusätzlich auch Ansprüche gegenüber ihren Eltern. Diese rechtlichen Ansprüche tragen maßgeblich zur Definition des Kindeswohls bei. Die Eltern eines Kindes sind naturgemäß für das Wohl ihres Kindes verantwortlich. Ein Kind hingegen benötigt von Geburt an Fürsorge und Erziehung. Bekommt es diese nicht, so wird es Schaden leiden und kann unter Umständen seine Persönlichkeit nicht frei entwickeln. Von daher richtet sich der Begriff des Kindeswohls nicht nur auf den momentanen Zustand von Kindern und Jugendlichen, sondern auch auf den zukünftigen Entwicklungsprozess zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit. Hieraus ergeben sich zwei Aspekte der Beurteilung des Kindeswohls: zum einen der Schutz und zum anderen die Förderung von Kindern und Jugendlichen. Der Schutz bezieht sich auf konkrete Gefahren, die das Wohl des Kindes bedrohen. Und auch ohne eine positive Förderung kann keine Entwicklung zu einer mündigen und eigenverantwortlichen Persönlichkeit stattfinden. Das Grundgesetz übergibt die primäre Verantwortung für Erziehung und Schutz den Eltern. (Art. 6 Abs. 2 Satz 1). Dieser verfassungsmäßigen Festlegung liegt die Annahme zugrunde, dass das Ziel der Erziehung zu einer gemeinschaftsfähigen und eigenverantwortlichen Persönlichkeit am besten im Rahmen und im Schutz elterlicher Geborgenheit erreicht werden kann. (vgl. Kindler et al. 2006:2-3)
Für den Begriff des Kindeswohls gibt es keine allgemeingültige Definition. Eine Eingrenzung wird möglich, sobald man die Überlegung einer Gefährdung desselben heranzieht. Der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls orientiert sich an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern und Jugendlichen. Der Gesetzgeber definiert eine mögliche Gefährdung auf der Ebene des Körpers, des Geistes und der Seele eines Kindes. Kann in diesen Bereichen das Wohl des Kindes innerhalb einer Familie oder einer Institution nicht gewährleistet werden, so liegt nach § 1666 BGB eine Kindeswohlgefährdung vor, aus der sich weitere Rechtsfolgen ergeben.
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