Für diese Arbeit stellt sich die Frage, inwiefern Ethnizität als Konstrukt als geostrategisches und politisches Mittel von Seiten Russlands genutzt wird, um die eigenen Interessen zu festigen. Es soll zunächst damit begonnen werden, die theoretische Grundlage zu klären, wobei der Schwerpunkt auf dem Prinzip der Ethnizität beruht. Dabei sollen moderne Theorien des Bordering und Othering unterstützend hinzugezogen werden, da sie eine immer wichtigere und eng verflochtene Rolle bei der Auseinandersetzung mit Ethnizität spielen. Die letzteren beiden Theorien werden in dieser Arbeit jedoch nicht in vollem Umfang analysiert, sondern lediglich im erforderlichen Rahmen. Die jüngere Forschungsgeschichte bietet aber genügend Forschungsarbeiten zu den Border-Studies, die sich insbesondere mit alltäglichen Grenzziehungen, sowie geopolitischer Strategien auf globaler Ebene, als auch auf die EU als Staatenkonglomerat und seinen Grenzen beziehen.
Der zweite Teil der Arbeit soll die theoretische Ausarbeitung in die Praxis eingliedern. Zunächst wird ein Querschnitt über die Interessen der großen Parteien des Ukrainekonflikts bereitgestellt, um das Handeln der Akteure besser zu verstehen. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass es sich nicht um eine detaillierte Abfolge der historischen Ereignisse dieses Konflikts handelt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den politischen Interessen Russlands und seiner Reaktion auf „westliche“ Interventionen.
Der zweite Abschnitt des praktischen Teils zielt letztlich auf die Beantwortung der Forschungsfrage ab und verknüpft die theoretischen Grundlagen mit den geopolitischen Interessen. Dabei wird anhand einiger Beispiele gezeigt, wie Russland den Ethnizitätsbegriff ausweitet und benutzt, um seine Einflusssphäre zu stärken und seine Interessen zu manifestieren.
Im Schlussteil soll eine Zusammenfassung ebenso Bestandteil sein, wie weiterführende Fragen, die sich während der Forschungsarbeit ergeben.
Inhalt
1. Einleitung
2. Ethnizitat im geographisch-soziologischem Kontext
2.1 Ethnizitat und seine Begriffsbedeutung
2.2 Wir und die Anderen -Bordering und Othering als Abgrenzungsprozesse
3. Die geopolitische Situation in der Ostukraine - ein Uberblick
3.1 Die politische Situation der Ukraine
3.2 Die Interessen Russlands
3.3 Die Interessen „des Westens"
4. Ethnizitat als geostrategisches Instrument - russische Minderheit als Mittel zum
Zweck?
5. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Ethnicity should enrich us: it should make us a unique people in our diversity and not to
be used to divide us.“
(Ellen Johnson Sirleaf - President of Liberia)
Wie kontrovers Ethnizitat als Thema behandelt wird, wird mit diesem Zitat deutlich, spiegelt der Begriff doch zwei Seiten einer Medaille wieder. Wahrend die einen in ihm die Chance fur Pluralismus und Multikulturalismus sehen, verwenden ihn andere als Mittel zur Gewaltausubung, zur Unterdruckung und Ausgrenzung.
Bei weit uber 1300 Ethnien und indigenen Volkern weltweit scheinen Konflikte gerade in einer sich globalisierenden und immer enger zusammenwachsenden Welt unausweichlich. Einerseits bestehen etwa Konflikte zwischen indigenen Volkern rund um den Aquator, die um ihre Existenz im Zuge von Raubbau, Urwaldrodungen oder Abbau von Ressourcen furchten und sich den global agierenden Konzernen und lokalen Regierungen gegenuberstellen. Andererseits braucht man gar nicht so weit reisen, um die Dimension von ethnischen Konflikten zu begreifen. Ein Blick auf die europaische Landkarte genugt, so war es in den 90er Jahren etwa der Burgerkrieg auf dem Balkan. Doch auch der Konflikt der Ethnien im Nahen Osten steht vor Europas Haustur. Seit 2013 kam fur die Stabilitat der Welt und insbesondere Europas ein weiterer Konflikt hinzu, der alte Angste aus dem Kalten Krieg wiedererwachen lasst. Im Zuge der revolutionaren Stimmung in der Ukraine brach auch im auBersten Sudosten Europas ein bewaffneter Konflikt aus. Russland spielt dabei eine entscheidende Rolle als Antagonist der „westlichen Staaten“. Damit eine Intervention Russlands in die ukrainische Innen- und AuBenpolitik legitimiert werden kann (sofern uberhaupt moglich), nutzt Moskau seine russische Diaspora, sprich seine in der Ukraine lebende russischsprachige und prorussische Minderheit, als strategisches Mittel aus. Ziel ist es, die Interessen „des Westens“ zu storen.
Fur diese Arbeit stellt sich daher die Frage, inwiefern Ethnizitat als Konstrukt als geostrategisches und politisches Mittel von Seiten Russlands genutzt wird, um die eigenen Interessen zu festigen.
Es soll zunachst damit begonnen werden, die theoretische Grundlage zu klaren, wobei der Schwerpunkt auf dem Prinzip der Ethnizitat beruht. Dabei sollen moderne Theorien des Bordering und Othering unterstutzend hinzugezogen werden, da sie eine immer wichtigere und eng verflochtene Rolle bei der Auseinandersetzung mit Ethnizitat spielen. Die letzteren beiden Theorien werden in dieser Arbeit jedoch nicht in vollem Umfang analysiert, sondern lediglich im erforderlichen Rahmen. Die jungere Forschungsgeschichte bietet aber genugend Forschungsarbeiten zu den Border-Studies, die sich insbesondere mit alltaglichen Grenzziehungen, sowie geopolitischer Strategien auf globaler Ebene, als auch auf die EU als Staatenkonglomerat und seinen Grenzen beziehen.
Der zweite Teil der Arbeit soll die theoretische Ausarbeitung in die Praxis eingliedern. Zunachst wird ein Querschnitt uber die Interessen der groBen Parteien des Ukrainekonflikts bereitgestellt, um das Handeln der Akteure besser zu verstehen. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass es sich nicht um eine detaillierte Abfolge der historischen Ereignisse dieses Konflikts handelt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den politischen Interessen Russlands und seiner Reaktion auf „westliche“ Interventionen.
Der zweite Abschnitt des praktischen Teils zielt letztlich auf die Beantwortung der Forschungsfrage ab und verknupft die theoretischen Grundlagen mit den geopolitischen Interessen. Dabei wird anhand einiger Beispiele gezeigt, wie Russland den Ethnizitatsbegriff ausweitet und benutzt, um seine Einflusssphare zu starken und seine Interessen zu manifestieren.
Im Schlussteil soll eine Zusammenfassung ebenso Bestandteil sein, wie weiterfuhrende Fragen, die sich wahrend der Forschungsarbeit ergeben.
2. Ethnizitat im geographisch-soziologischem Kontext
Anders als im politischen Rahmen, werden Begriffe Ethnizitat, Ethnie oder ethnische Gruppe in der Alltagssprache seltener verwendet, obwohl sie eine wichtige Rolle in unserer pluralistischen und multikulturellen Welt einnehmen. Sicherlich werden mit diesen Worten bestimmte Assoziationen oder Definitionen verbunden. Letztlich werden sie im Alltag dazu benutzt, Personen bestimmten Gruppen oder bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben. Somit erhalt der Begriff der Ethnie eine starke Bedeutung, fuhrt er doch zu Stigmatisierungen, Merkmalszuweisungen und Klassifizierungen. Fur diese Arbeit genugt es jedoch nicht, sich ausschlieBlich auf Alltagswissen zu beziehen, das selbstverstandlich im Verstandnis des Anwenders immer unterschiedlich ist, vielmehr soll eine ausfuhrliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik erfolgen.
2.1 Ethnizitat und seine Begriffsbedeutung
Eine einheitliche Definition uber Ethnizitat, als Forschungsthema, bzw. Ethnie, als Forschungsinhalt, zu finden, scheint bei der Fulle an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik fast unmoglich. Untersucht man die Bedeutung des Begriffes seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts und vermehrt seit Beginn der 90er Jahre, so lassen sich jedoch immer wieder Gemeinsamkeiten in den Definitionen finden. Um als Ethnie bezeichnet zu werden, scheinen Merkmale wie: gemeinsame Abstammung und Denkweisen, gleiche Kultur, Religion, Klasse oder Sprache wesentliche Eigenschaften zu sein. Demnach bezeichnet Ethnizitat eine Lebensgemeinschaft, meist eine kleinere Gruppe, mit einer eigenen Sozialstruktur, charakterisiert durch die eben genannten Bestandteile. Ethnische Gruppen sind historisch gewachsen und begrunden ihre Existenz auf eine gemeinsame Vergangenheit sowie auf einer gemeinsamen geographischen Herkunft (Thiemer-Sachse 1994; Groenemeyer und Mansel 2003). Fur Ulf Brunnenbauer resultiert die Zuschreibung zu einer Ethnie nicht wie bei Thiemer-Sachse oder Groenemeyer aus deren auBeren strukturellen Merkmalen, vielmehr werden Ethnien im Vorfeld geschaffen, denen im Nachhinein bestimmte Charaktereigenschaften und Merkmale zugeschrieben werden (Brunnbauer 2002, S.14).
Zu Beginn der Ethnizitatsforschung1, die einen Teilbereich der Anthropologie ausmacht, schien Ethnizitat eine von der Natur gegebene Charakterisierung zu sein. Erst mit der intensiveren thematischen Auseinandersetzung seit den 70er Jahren gewannen konstruktivistische Ansatze an Popularitat. Ethnizitat ist laut Eckhard Dittrich und Detlef Hoffmann (1994) sowie Heller (2006) ein Konzept, das auf politischen und modernen Zuschreibungen basiert, statt auf „soziobiologische[n]“ Hintergrunden (Dittrich und Hoffmann 1994). Dabei sind diese charakterlichen Zuschreibungen von auBen oder auch die Merkmale innerhalb einer Ethnie temporare Zustande und damit wandelbar. Ethnien sind demnach keine festen Konstrukte, sondern werden durch historische, politische oder okonomische Zustande verandert/erneuert (Brunnbauer 2002; Groenemeyer und Mansel 2003; Thiemer-Sachse 1994; Dittrich und Hoffmann 1994). Ulf Brunnenbauer (2002) sowie Axel Groenemeyer (2003) fugen der Begriffsdefinition im Sinne des konstruktivistischen Ansatzes die Ebene der Fremd- und Selbstzuschreibung hinzu. Ihrer Ansicht nach erfolgt die Zuordnung zu einer Ethnie einerseits aus einer inneren Uberzeugung der Gruppe und deren klarer Abgrenzung zur umgebenden Personengruppe heraus, andererseits kann die Zuschreibung zu einer Ethnie auch von auBenstehenden Personen vorgenommen werden. In diesem Fall werden bestimmte wiederkehrende und haufig auftretende Merkmale zusammengefasst und die Gruppe als Ethnie bezeichnet, obwohl sie sich selbst nicht immer als solche bezeichnen wurde.
Anhand der beschriebenen Merkmale von Ethnizitat lassen sich Zuweisungskategorien vornehmen (Groenemeyer und Mansel 2003). Ethnien konnen demnach aufgrund ihrer „kollektiven Identitat", etwa, weil sie ein gleiches Schicksal wie Migration geteilt haben, eingeordnet werden. Andere Gruppen bezeichnen sich als Ethnien oder werden als solche betrachtet, weil sie Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen auf politischer oder okonomischer Ebene erfahren haben. Auch die geographische Verteilung und die damit verbundene sozialraumliche Trennung im Zuge von Migrations- und Segregationsprozessen kann als Klassifikationseigenschaft dienen. Trotz solcher Klassifizierungsmodelle sind Ethnien immer subjektive Bezeichnungen. So kann zurecht die Frage gestellt werden, wann man sich selbst einer Ethnie zuschreibt oder zugeschrieben wird. Wie viele Definitionsmerkmale mussen „erfullt“ sein? Gibt es uberhaupt festgelegte Indikatoren? Worin grenzt man eine Ethnie von Begrifflichkeiten wie Nation, Rasse oder Volk ab? Hierin liegen wesentliche Schwierigkeiten, die bei ethnischen Zuschreibungen durchaus den Eindruck von Willkur erwecken konnten. Somit bleibt Ethnizitat ein hochemotionales und wandelbares Konstrukt. In Anlehnung an Frederik Barth ist Christian Giordano (2007) der Auffassung, dass Ethnien nicht durch Kataloge oder Kategorisierungsverfahren eingeteilt werden konnen. Fur einzelne Ethnien spielen auch unterschiedliche Merkmale eine identitatsstiftende Rolle. Wahrend sich die eine Gruppe durch ihre Sprache als Einheit fuhlt, ist es bei einer anderen eher die Religion oder ein kultureller Ritus. Eine Kategorisierung sei nicht sinnvoll, da das soziale Konstrukt Ethnie sich in einem kontinuierlichen, historischen, ideologischen und sozialen Wandel befindet. Was heute als Identifikationsmerkmal dient, kann in fruherer Zeit oder spater ein anderes gewesen sein (Giordano 2007).
Folgen und Probleme von Ethnizitat
Schaut man sich die noch junge Geschichte an, so lassen sich eine Vielzahl von Konflikten finden, die auf ethnische Ursachen zuruckgefuhrt werden. Sei es die Konfliktregion auf dem Balkan, die in den 90er Jahren zu kriegerischen Auseinandersetzungen fuhrte oder der Nahe Osten, in denen Clans, Stamme und ethnische Gruppierungen um Machteinflusse streiten und dies bis heute tun. Ethnizitat birgt scheinbar ein gewisses Risiko und eine latente Gefahr von intraethnischen Konflikten. Ethnizitat als theoretisches Konstrukt geht mit Folgen und Problemen einher, die sich in der Praxis wiederfinden.
Stigmatisierung und Marginalisierung sind nicht nur Folgen alltaglicher Fremdzuweisungen von Ethnizitat, sie konnen unter anderem auch von politischer oder okonomischer Ebene institutionalisiert werden, wie der zweite Teil der Arbeit deutlich machen wird. Im Alltag finden sich stereotypische und teilweise rassistische Denkweisen in erster Linie im Sprachgebrauch, im Umgang untereinander und auch in der Konnotation des Wortes an sich wieder. Laut Groenemeyer (2003) sei der Ethnizitatsbegriff fur viele Menschen gleichbedeutend mit Minderheit, wobei es sich im eigentlichen Sinne nicht immer um eine quantitative Minderheit handelt, sondern um eine Gruppe mit geringerem rechtlichen, kulturellen oder politischen Status. Wenngleich das alltagliche Verstandnis dazu tendiert, stellen Ethnien nicht zwangslaufig eine Minoritat dar. (Bos 2008). Aufgrund dieser verankerten Denkweise erweisen sich besonders ethnische „Minderheiten“ als nutzliches politisches Argument. Wilfried Heller (2007) spricht dabei von einem „instrumentellen Ansatz“ (Ebd., S.16)2, welcher davon ausgeht, dass bestimmte elitare politische Gruppen das Ziel verfolgen, bestimmte Interessen voranzubringen und Machtpositionen zu starken oder zu erhalten. Die Zugehorigkeit zu einer Ethnie werde dazu benutzt, eigene Erfolgsaussichten zu erhohen. Ethnizitat spiegelt sich hierbei als machtiges geopolitisches Instrument wieder. Bereits Claus Offe (1994, S.138) schrieb dazu, dass ethnisch begrundete politische Strategien in hohem MaBe plastisch und strategisch manipulierbar seien, worin er die Ursachen fur erfolgreiche Mobilisierungen von Menschenmassen fur politische Interessen sieht. Soziookonomische Interessengruppen werden geschaffen, um Absatzmarkte zu generieren, politischen Einfluss zu gewinnen oder Unruhen zu stiften oder ihnen vorzubeugen (Wimmer 2008, S.45f.). Unterstutzt werden solche politischen Instrumentalisierungen durch das innere Zugehorigkeitsgefuhl von Ethnien. So spielt die starke emotionale Bindung an einen geographischen Raum3 eine entscheidende Rolle. Des Weiteren werden die haufig verwandtschaftlichen Beziehungen oder gleichen Abstammungen als „zwingend, unhintergehbar und authentisch“ (Bos 2008) angesehen. „[...] Ahnlich wie bei Religion oder Familienangehorigkeit kann Ethnizitat [...] zum hoch emotionalisierten, oft konflikthaften Motor sozialen Handelns werden“ (Bos 2008).
2.2 Wir und die Anderen - Bordering und Othering als Abgrenzungsprozesse
Die beschriebenen Folgen der Fremd- und Selbstzuschreibung fuhren ihrerseits zu einem Phanomen bzw. theoretischen Ansatz, der in der Forschung als Bordering bzw. Othering definiert wird. Mit Grenzen sind im Allgemeinen nicht nur physische, geographische Grenzen und jene auf Landkarten gemeint, sondern vermehrt seit Beginn des neuen Jahrtausends vor allem gedachte Grenzen. Newman (2006) spricht dabei von konstruierten Grenzen, die von jedem Individuum unterschiedlich gemacht und verandert werden. Die Folge solcher Konstrukte ist dabei unter anderem die Einteilung von Menschen in Gruppen. In der neueren Forschung der Border-Studies spricht man dabei vom Othering. „Othering is the simultaneous construction of the self or in-group and the other or out-group [.]“ (Crang 1998, S.61). Es geht laut Crang (1998) um die Erschaffung eines Wir-Gefuhls bei gleichzeitiger Abgrenzung zu anderen Gruppen, wobei der eigenen Gruppe positive und der anderen Gruppe negative Eigenschaften zugeschrieben werden, um die eigene Identitat zu starken. Politische Akteure verfolgen mit konstruierten Grenzziehungen einerseits die Schaffung einer einheitlichen Ordnung im soziologischen und geographischen Umfang und andererseits die Festigung neuer Differenzen in Raum und Identitat (van Houtum und van Naerssen 2002). AuBerdem dient Bordering dazu, den Verkehr von Menschen, Geld oder Produkten zu kontrollieren sowie im Zuge der Globalisierung die innere Sicherheit zu gewahrleisten (van Houtum und van Naerssen 2002). Damit erhalten sowohl Bordering als auch Othering als untrennbare Konstrukte politisches Gewicht und bilden eine Legitimationsgrundlage fur politisches Handeln. „Fear of the other, the desire to defend oneself from the threat (regardless of whether is real or perceived) is scale inclusive" (Newman 2006, S.177). So konnen Wir und die Anderen- Debatten populistisch genutzt werden, um die Zugehorigkeit zu einem gemeinsamen Verbund zu starken. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird anhand des Praxisteils deutlich, wie Bordering und Othering als politisches Instrument geostrategisch eingesetzt wird.
Die Aus- oder Abgrenzung fuhrt zu einer gesellschaftlichen Ausdifferenzierung. Die Identifikation mit einer gesellschaftlichen Gruppe und das Bekenntnis zu einer Ethnie fuhren ebenso zu einem starken Wir-Gefuhl, wie die Gruppierung im Zuge auBerer Diskriminierungen und Stigmatisierungen. Derartige Wir und die Anderen Debatten basieren zumeist auf emotionalen Begrundungen und bergen damit ein erhohtes Konfliktpotenzial. Wahrend sich die eine Gruppe subjektiv einen starkeren sozialen Status zuschreibt (Bordering), grenzt sie sich damit von den kulturell, politisch, sprachlich oder religios andersartigen Personengruppen ab (Othering). Dies gilt selbstverstandlich auch in die andere Richtung. Eskalieren solche Wir und die Anderen-Diskurse, so konnen derartige Auseinandersetzungen ihren Hohepunkt in Zwangsausweisungen, Umsiedlungen, Diskriminierungen oder gar Krieg und Genozid finden. Die Angste, die durch Bordering und Othering bei einzelnen Personengruppen ausgelost werden, konnen fur politische Zwecke genutzt und missbraucht werden. Die Abgrenzung zu anderen durch ein gesteigertes Wir- Gefuhl ist laut (Scherrer 1994) besonders dann gefahrlich, wenn Eliten mit Interessensanspruchen oder Ethnien an sich nationalstaatliche Anspruche stellen. An dieser Stelle sei an den zweiten Teil der Arbeit erinnert, in dem dargelegt wird, inwiefern die russische Regierung ein solches nationalstaatliche Denken in der Ostukraine fordert und damit den derzeitigen Konflikt weiter anheizt.
AbschlieBend soll gesagt sein, dass Ethnizitat als hochemotionales und wirksamen Element gegenwartiger Geopolitik mit Bordering und Othering Tendenzen untrennbar einhergeht. Ihr Verhaltnis basiert auf wechselseitigen Ursachen.
Nach der kritischen Auseinandersetzung mit der theoretischen Grundlage soll die Definition von Christin Giordano (Giordano 2007) als Grundlage dieser Arbeit herangefuhrt und erweitern werden, um ein einheitliches Verstandnis und eine sinnhafte Basis fur die weitere Abhandlung zu schaffen.
„Ethnische Gruppen und darunter auch Minderheiten, und Mehrheiten sind keine organische Gemeinschaft, die man als naturgegeben betrachten kann. Sie werden in bestimmten historischen Konstellationen von Eliten oder sozialen Bewegungen gemacht, d.h. gesellschaftlich produziert. Ethnizitat, d.h. der Einsatz ethnischer Kategorien durch soziale Gruppierungen darf nicht als ein vorgegebener Zustand angesehen werden, sondern muss vielmehr als ein wesentlicher Bestandteil von Abgrenzungsprozessen [Bordering und Othering - eigene Anmerkung] verstanden werden.“ Derartige Abgrenzungsindikatoren sind dabei haufig soziookonomischen und soziokulturellen sowie historisch-geographischen Ursprungs.
3. Die geopolitische Situation in der Ostukraine - ein Uberblick
Wie aus der Uberschrift des Kapitels zu entnehmen ist, soll dieses Kapitel nicht den Anspruch erheben, eine umfangreiche und detaillierte Abhandlung uber die Situation in der Ostukraine zu liefern. Die Tragweite der Konfliktsituation mit all seinen historisch-politischen Ursachen und seiner komplexen Dynamik wurde den Diskussionsrahmen dieser Arbeit ubersteigen. Es soll dennoch, insbesondere in Bezug auf das folgende Kapitel, eine kurze thematische Grundlage in Bezug auf die Interessen der groBen Parteien (Russland- Ukraine- westliche Staaten/EU) mit Schwerpunkt auf russische Interessen gegeben werden, um die Kontroversen dieses aktuellen politischen Geflechts zu verstehen.
3.1 Die politische Situation der Ukraine
Seit Ende 2013 kommt aufgrund der Unzufriedenheit der breiten Masse der Bevolkerung bezuglich der ukrainischen Politik zu regelmaBigen Demonstrationen. Die ukrainische Bevolkerung forderte immer wieder ein gerechteres Staatssystem mit einer neuen Rechtsordnung und weniger Korruption und Vetternwirtschaft. Zudem war ein weiteres zentrales Anliegen die Annaherung an den Westen, um sowohl politisch und okonomisch als auch kulturell davon zu profitieren. Wirtschaftlicher Aufschwung und bessere Sozialleistungen standen als Hauptforderung ebenso im Raum (Lauterbach 2015, S.84f.). Die Ukraine, insbesondere der westliche Teil, sucht innerhalb Europas, ahnlich wie ehemalige sowjetische Satellitenstaaten, ein Bezugssystem. Dieses kulturelle, politische und okonomische Bezugs- und Wertesystem wird in der Annaherung an westliche Staaten im Einzelnen (USA) und der EU im Besonderen gesucht, da sie ein Garant fur Stabilitat und Fortschritt darstellen konnen.
Ziel der Ukraine ist eine einvernehmliche AuBenpolitik, die in dem Sinne schwer zu gestalten ist, als dass sich die russische Minderheit ihrem „Referenzstaat“ (Russland) zuwendet, wahrend der Westteil und damit die Mehrheit der Bevolkerung einen prowestlichen Kurs fordert. So kam es dazu, dass die EU auf eine Ratifizierung von Handelsabkommen und EU Beitrittsverhandlungen drangte, wobei die „pluralistischen Interessen“ der ukrainischen Minderheiten nicht beachtet wurden (Buscher 2004, S.78). Diese Diskrepanz gilt es von der Regierung zu uberwinden, ohne dass sie von auBenstehenden Parteien instrumentalisiert wird.
Kiew verpasste es jedoch, die Annaherung an Russland zu fordern. Stattdessen verfolgte die Regierung lange eine Distanzierungspolitik, wobei die Distanzierung zur russischen Minderheit im eigenen Land als nicht-intendierte Folge zu betrachten ist. Diese Nichtbeachtung und die Diskriminierung bei demokratischen Verfahren sind fur das Identitats- und Integritatsbewusstsein der russischen Minderheit in Bezug auf die Restukraine wenig forderlich. (Buscher 2004, S. 346). Die ukrainische Regierung betrieb in den letzten Jahren eine Assimilations- und Akkulturationspolitik, die darauf abzielt, die russische Minderheit vollkommen in die kulturelle Struktur des Landes aufzunehmen, ohne deren Interessen zu berucksichtigen. So wurde etwa versucht, die russische Sprache als als Amtssprache abzusetzen. Zudem wurde versucht, den Einfluss russischer Medien zu beschranken. Dies fuhrte zu einer mangelnden Integration, die sich in Segregation und Isolation seitens der russischen Minderheit auBerte.
Die ukrainische Regierung steht vor der Herausforderung, sich zwischen zwei Einflussspahren entscheiden zu mussen. Sowohl die EU als auch Russland stellen zu etwa gleichen Anteilen die Hauptabnehmer ukrainischer Exporte (Lauterbach 2015, S.80). Das ukrainische Interesse liegt daher auf dem Schutz der Integritat okonomischer und strategischer Belange und damit auf einer Vermittlerrolle zwischen Ost und West (Suppan 1991).
[...]
1 Etwa Anfang des letzten Jahrhunderts bis in die 70er Jahre.
2 Andere Ansatze konnen im Rahmen der Arbeit nicht weiter erlautert werden. Informationen zu „traditionellen“, „konstruktivistischen“ oder „relativiert-konstruktivistischen“ Ansatzen bei Heller 2007, S. 16ff.
3 Beispielsweise, weil die Akteure dort aufgewachsen sind oder wegen soziokultureller Merkmale (Sprache, Essensgewohnheiten usw.).