Die Arbeit konzentriert sich auf die Verantwortungspflicht von Staaten bei der Verübung von Massenverbrechen. So gilt es festzustellen, inwieweit Drittstaaten oder die internationale Staatengemeinschaft dafür verantwortlich sein sollen, Bürger anderer Nationen zu schützen und gegen Völkermordverbrechen vorzugehen.
Hierzu wird zunächst das Konzept der Schutzverantwortung genauer vorgestellt und anschließend konkretisiert, welcher Verantwortungsbegriff dieser Arbeit zugrunde gelegt wird. In einem weiteren Schritt werden die Konzepte der Ergebnisverantwortung und Abhilfeverantwortung nach David Miller auf die Ebene Heimatstaat, Drittstaat und internationale Staatengemeinschaft übertragen. Mithilfe von Millers theoretischen Annahmen soll gezeigt werden, dass sich eine Verpflichtung zum Handeln für Drittstaaten und die internationale Gemeinschaft begründen lässt. In einem abschließenden Fazit werden die wichtigsten Ergebnisse nochmals zusammengetragen und reflektiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2 Das Konzept der Schutzverantwortung
3 Bedeutung von Verantwortung
3.1 Ergebnisverantwortung nach Miller
3.2 Abhilfeverantwortung nach Miller
4 Analyse der Ergebnisverantwortung
4.1 Ergebnisverantwortung von Heimatstaaten
4.2 Ergebnisverantwortung von Drittstaaten
4.3 Ergebnisverantwortung der internationalen Staatengemeinschaft
5. Analyse der Abhilfeverantwortung
5.1 Abhilfeverantwortung von Heimatstaaten
5.2 Abhilfeverantwortung von Drittstaaten
5.3 Abhilfeverantwortung der internationalen Staatengemeinschaft
6 Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das gescheiterte Vorgehen der internationalen Staatengemeinschaft zur Verhinderung der Völkermorde Ruanda und Srebrenica sowie die umstrittene militärische Intervention der NATO im Kosovo führten zu einer intensiven Diskussion darüber, wie schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit künftig verhindert werden können. Für den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan stellte sich vor allem folgende Frage: „if humanitarian intervention is, indeed, an unacceptable assault on sovereignty, how should we respond to a Rwanda, to a Srebrenica, to gross and systematic violation of human rights that offend every precept of our common humanity?” (Annan 2000: 48). Im Grunde genommen ging es hierbei um die Fragen, wer Verantwortung für den Schutz von Zivilisten trägt und wie die Achtung der staatlichen Souveränität mit dem Schutz von unveräußerlichen Menschenrechten zu vereinbaren ist (Simon 2016: 5). Das im Jahr 2001 vorgestellte Konzept der Schutzverantwortung sollte hierfür eine Lösung bieten. Dieses präsentierte ein neues Verständnis von Souveränität, das nicht mehr als ein absolutes, sondern als konditionales Recht zu verstehen ist. Ist es Heimatstaaten nicht möglich die Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, so erwächst eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, die Verbrechen zu verhindern.
Die Zahl der weltweit vertriebenen Flüchtlinge von über 80 Millionen, der anhaltende Bürgerkrieg in Syrien oder der Völkermord an den Jesiden im Irak zeigen jedoch deutlich, dass sich das Konzept der internationalen Schutzverantwortung bislang nicht in der politischen Praxis etabliert hat und zur Lösung von Konflikten beiträgt (DGVN 2017: 8; UNO 2021). Obwohl seit mehreren Monaten internationale Organisationen und verschiedene Medienberichterstatter von Menschenrechtsverletzungen und einem Genozid an der muslimischen Minderheit der Uiguren in China berichten, haben bislang wenige Staaten dazu Stellung genommen oder den Umgang mit der ethnischen Minderheit als Völkermord eingestuft (Genocide-Alert 2020; Gutschker / Wiegel 2021: 1). Ein Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft ist bis dato ausgeblieben.
Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf die Verantwortungspflicht von Staaten bei der Verübung von Massenverbrechen. So gilt es festzustellen, inwieweit Drittstaaten oder die internationale Staatengemeinschaft dafür verantwortlich sein sollen, Bürger anderer Nationen zu schützen und gegen Völkermordverbrechen vorzugehen. Hierzu wird zunächst das Konzept der Schutzverantwortung genauer vorgestellt und anschließend konkretisiert, welcher Verantwortungsbegriff dieser Arbeit zugrunde gelegt wird. In einem weiteren Schritt werden die Konzepte der Ergebnisverantwortung und Abhilfeverantwortung nach David Miller auf die Ebene Heimatstaat, Drittstaat und internationale Staatengemeinschaft übertragen. Mithilfe von Millers theoretischen Annahmen soll gezeigt werden, dass sich eine Verpflichtung zum Handeln für Drittstaaten und die internationale Gemeinschaft begründen lässt. In einem abschließenden Fazit werden die wichtigsten Ergebnisse nochmals zusammengetragen und reflektiert.
2. Das Konzept der Schutzverantwortung
Nach den verheerenden Völkermorden in Ruanda und Srebrenica wurde im Herbst 2001 die Internationale Kommission für Intervention und staatliche Souveränität (ICISS) einberufen, die ein neues Verständnis von Souveränität vorlegte und an weitere Bedingungen knüpfte (Laukötter 2018: 204). Dieser Auffassung zufolge müssen Staaten Verantwortung für den Schutz ihrer Bevölkerung übernehmen, um als souverän zu gelten (Simon 2016: 6; DGVN 2017: 2). Ist der betreffende Staat nicht willens oder in der Lage die auf seinem Gebiet lebende Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen oder ist er selbst Täter von Verbrechen und Gräueltaten, erwächst eine Schutzverantwortung der internationalen Staatengemeinschaft, die Verbrechen zu verhindern (DGVN 2017: 2; United Nations 2021). Das Konzept der Schutzverantwortung sah damit eine Verschiebung vom Interventionsrecht zu einer Interventions- bzw. Handlungspflicht von Staaten bei Menschenrechtsverletzungen vor (Deitelhoff 2013: 30).
Vier Jahre später auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen wurde ein Ergebnisdokument mit R2P-Bezug durch die teilnehmenden Staaten im Jahr 2005 verabschiedet, sodass das Konzept grundsätzlich anerkannt wurde. Das Dokument betont die Schutzpflichten der Staaten und die subsidiäre Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, diese Bemühungen zu unterstützen. Während die ICISS in ihrem Bericht die Auslösesituationen sehr weit gefasst hat, beschränkte die UN-Generalversammlung die Anwendbarkeit des Konzepts lediglich auf die vier Kernverbrechen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnische Säuberung (Deitelhoff 2013: 20; DGVN 2017: 3). Des Weiteren wurde entschieden, dass gemeinsame Zwangsmaßnahmen durch die internationale Gemeinschaft nur durch den Sicherheitsrat im Einklang mit der UN-Charta ergriffen werden können, sodass diesem die letztliche Entscheidungsbefugnis obliegt. Die ursprüngliche Formulierung der ICISS zur Schutzverantwortung erfuhr damit eine deutliche Abschwächung.
In den folgenden Jahren wurden verschiedene Versuche unternommen, das Konzept der Schutzverantwortung weiterzuentwickeln und die Staaten bei der Umsetzung und Implementierung zu unterstützen. Hieraus wird deutlich, dass es sich bei R2P nicht um eine rechtlich verbindliche Norm handelt (Rudolf 2013: 12). In einem ersten Bericht zur Schutzverantwortung im Jahr 2009 wurde eine Drei-Säulen-Gliederung vorgestellt, welche den Umsetzungsprozess fördern soll und sich weitgehend durchgesetzt hat. Die erste Säule implementiert, dass es in der Eigenverantwortung der Staaten liegt, ihre Bevölkerung zu schützen und entsprechende präventive Maßnahmen zu ergreifen. Nationale Regierungen sind dazu verpflichtet, ihre Bevölkerung vor Massenverbrechen zu schützen, ohne bestimmte Gruppen gezielt auszuschließen. Da es sich bei Völkermorden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnischer Säuberung nicht um spontane, sondern um geplante und organisierte Verbrechen handelt, könnten diese verhindert werden. Anhand spezifischer Risikofaktoren ist es den Vereinten Nationen möglich, die Wahrscheinlichkeit bestimmter Verbrechen zu ermitteln (DGVN 2017: 4). Staaten sollen daher in der Lage sein, diese Risikofaktoren zu erkennen, um rechtzeitig reagieren zu können. Hierbei gilt es zu erwähnen, dass die Verantwortung der Staaten nicht aus dem Konzept der Schutzverantwortung hervorgeht, sondern bereits mit der staatlichen Souveränität und rechtlichen Verpflichtungen einhergeht (Simon 2016: 10).
Die zweite Säule betont die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft, die Staaten bei der Erfüllung ihrer Schutzverantwortung zu unterstützen. Die frühzeitige Erkennung von Gewaltpotentialen spielt eine entscheidende Rolle, die die internationale Gemeinschaft mithilfe verschiedener diplomatischer Maßnahmen zu unterstützen versucht. Darüber hinaus können Staaten die betroffenen Regierungen in gezielten Bereichen, wie dem Sicherheitssektor oder der Zivilgesellschaft, stärken. Viele Maßnahmen, die auf eine direkte Unterstützung vor Ort gerichtet sind, bedürfen allerdings der Zustimmung der Gastregierung. Insgesamt begünstigt die zweite Säule den Ausbau von Kapazitäten und fördert nationale Regierungen darin, ihrer Schutzverantwortung nachzukommen (Genocide-Alert 2021). Säule drei richtet sich an die Verantwortung der Mitgliedstaaten, kollektiv und rechtzeitig mit Entschlossenheit Maßnahmen zu ergreifen, wenn ein Staat bei der Gewährleistung der Schutzverantwortung versagt (Simon 2016: 11; DGVN 2017: 5; Genocide-Alert 2021). Zu diesen Zwangsmaßnahmen zählen Sanktionen, internationale Strafverfolgung und militärische Interventionen, die keine Zustimmung der nationalen Regierung benötigen. Die Sanktionen können sowohl von den Vereinten Nationen als auch von einzelnen Staaten oder Organisationen verhängt werden (DGVN 2017: 5). Die Ausübung von militärischen Maßnahmen bedarf in jedem Fall einer Autorisierung des UNSicherheitsrats und die sollten nur dann ergriffen werden, wenn sich friedliche Mittel als unzureichend erwiesen haben (Hofman 2012: 1). Im Unterschied zu UNFriedensmissionen, die von den Vereinten Nationen geleitet werden, stehen militärische Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung unter dem Oberbefehl desjenigen UNMitgliedstaates, der die Mandatierung der Mission angefordert hat (DGVN 2017: 6).
Das Konzept der Schutzverantwortung richtet sich somit in erster Linie an die Eigenverantwortung der Staaten ihre Bevölkerung zu schützen, sowie an die internationale Gemeinschaft diplomatische und präventive Maßnahmen zu ergreifen, um die Umsetzung dieser Pflicht zu fördern. Während sich die Pflichten der ersten Säule aus völkerrechtlichen Normen ableiten lassen, besteht im Hinblick auf die in der dritten Säule verankerten militärischen Zwangsmaßnahmen eine erhebliche Uneinigkeit (DGVN 2017: 7). Das geltende Völkerrecht erlaubt die Anwendung militärischer Gewalt nur in zwei Ausnahmefällen, die in Kapitel VII der UN-Charta geregelt sind und trotz der Annahme des Konzepts unverändert bleiben. Auch wenn R2P eine Schutzpflicht der internationalen Gemeinschaft begründet, fehlt angesichts der fehlenden rechtlichen Verpflichtung, militärische Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, eine entsprechende Haftungsmöglichkeit, wenn dieser Pflicht nicht nachgegangen wird. Es gibt keine Verfahren, die die internationale Gemeinschaft bei unterlassener Hilfsleistung rechtlich verantwortlich machen könnten (Welsh 2010: 281). Aus diesem Grund kann das Konzept der Schutzverantwortung nicht als Rechtsnorm, sondern lediglich als moralische Verpflichtung oder politisches Versprechen verstanden werden, sich für die Verhinderung schwerer Verbrechen und für Bürger anderer Staaten einzusetzen (Deitelhoff 2013: 31). Doch wie lässt sich eine Handlungspflicht dennoch begründen? Diese Frage soll in den nächsten Kapiteln durch eine spezielle Auffassung von Verantwortung beantwortet werden.
3. Bedeutung von Verantwortung
In der Literatur wird zwischen verschiedenen Formen von Verantwortung differenziert, die abhängig von der normativen Hintergrundtheorie unterschiedlich ausgelegt und interpretiert werden. So gibt es beispielsweise moralische, soziale, politische oder auch rechtliche Verantwortung. Andere Autoren postulieren wiederum eine rollenspezifische (Hart 2008: 212) oder kollektive Verantwortung (Isaacs 2016). Je nach Auslegung werden diesen Arten von Verantwortung unterschiedliche Eigenschaften und Kriterien zugeschrieben, anhand derer festgestellt wird, ob und wieso ein Akteur zur Verantwortung gezogen werden kann und gegenüber wem er gegebenenfalls verantwortlich ist (Nida-Rümelin/Bratu 2016: 2). So kann ein Politiker in bestimmten Fällen sowohl politische als auch moralische Verantwortung tragen, in anderen Handlungskonstellation dagegen nur politisch verantwortlich sein. Dementsprechend gilt es zunächst zu klären, auf welchem Verständnis von Verantwortung die folgende Arbeit basiert. Hierzu werden die Konzepte der Ergebnisverantwortung (outcome responsibility) und Abhilfeverantwortung (remedial responsibility) von David Miller herangezogen und auf Staaten sowie die internationale Staatengemeinschaft angewandt.
3.1 Ergebnisverantwortung nach Miller
In Anlehnung an Tony Honoré's Vorstellungen von Verantwortung beschreibt Miller einen Akteur als ergebnisverantwortlich, wenn die Konsequenzen der Handlungen dem Akteur zugeordnet werden können, unabhängig ob diese mit Vor- oder Nachteilen verbunden sind (Miller 2004: 244 - 245). Gehen die Handlungen mit negativen Folgen oder einem Schaden für andere einher, so könne die Ergebnisverantwortung in bestimmten Fällen eine Kompensationspflicht nach sich ziehen. Im Unterschied zur kausalen oder moralischen Verantwortung wird die Vorstellung der Ergebnisverantwortung enger ausgelegt und an die Vorhersehbarkeit des Ergebnisses geknüpft (Miller 2004: 245). Die Vorhersehbarkeit bezieht sich darauf, ob die Konsequenzen der Handlungen aus der Perspektive einer vernünftigen Person als vorhersehbar aufgefasst werden können. Hierbei spielt es daher keine Rolle, ob der eigentliche Akteur die Handlungsfolgen beabsichtigt oder vorhergesehen hat (Miller 2004: 250). Bei der kausalen Verantwortung hingegen wird einem Akteur auch dann Verantwortlichkeit zugeschrieben, wenn die Folgen des Handelns nicht vorhersehbar gewesen sind oder wenn der Akteur keine Kontrolle über mögliche Konsequenzen hatte.
Die moralische Verantwortung fragt danach, ob eine bestimmte Handlung oder Unterlassung als löblich oder schuldhaft zu bewerten ist, unabhängig von der rechtlichen oder kausalen Bewertung des Sachverhalts (Isaacs 2016: 5). Insofern wird überprüft, ob die Handlung des Akteurs als moralisch richtig oder falsch bzw. als lobens- oder tadelnswert zu beurteilen ist. Moralische Verantwortlichkeit impliziert somit die Ergebnisverantwortung und überprüft weitere Faktoren wie Absicht oder Fahrlässigkeit (Miller 2001: 456; 2004: 246).
3.2 Abhilfeverantwortung nach Miller
Das Konzept der Abhilfeverantwortung basiert auf der Vorstellung, dass ein Akteur das Leiden oder den Schaden einer Person bzw. einer Personengruppe behebt und in Ordnung bringt. Oftmals werden diejenigen Akteure für abhilfeverantwortlich befunden, denen bereits für eine bestimmte Handlung Ergebnisverantwortlichkeit zugeschrieben wurde (Miller 2004: 247). Auch wenn das auf den ersten Blick die einzige logische Schlussfolgerung darstellt, gibt es unzählige Situationen, bei denen es sinnvoller sein kann, die Zuschreibung der Abhilfeverantwortung nicht an den primären ergebnisverantwortlichen Akteur zu binden, sondern diesen anhand anderer relevanter Faktoren zu bestimmen. So gibt es beispielsweise Akteure, die einen Schaden einfacher und kostengünstiger beseitigen können. Hinzu kommt, dass die Verantwortlichen nicht immer in der Lage sind, eine Abhilfe zu leisten, wenn die notwendigen Ressourcen fehlen oder der Schaden bereits so groß ist, dass dieser nicht eigenständig von den Verursachern behoben werden kann (Miller 2004: 247). Insofern kann die Ergebnisverantwortung im Hinblick auf die Bestimmung von Abhilfe ein ausschlaggebendes Kriterium darstellen, endgültig lässt sie sich jedoch nur anhand des konkreten Falls und dessen situativer Besonderheiten messen1.
Neben individuellen Akteuren können auch kollektive Entitäten wie internationale Organisationen, Staaten, oder Unternehmen Träger von Verantwortung sein. Die Idee, dass kollektive Akteure zur Verantwortung gezogen werden können, wird zwar in der Literatur von vielen in Frage gestellt, doch gleichermaßen von verschiedenen Autoren angenommen und für die vorliegende Arbeit auch als Grundlage vorausgesetzt (Miller 2001: 454; Erskine 2003: 27; Isaacs 2011: 3; 2016: 8). Da es zu untersuchen gilt, ob und warum Staaten oder die internationale Gemeinschaft verantwortlich sind, Bürger anderer Nationen vor Massenverbrechen zu schützen, wird im Folgenden noch eingegrenzt, auf welche Form von Verbrechen die Schutzverantwortung bestehen soll. Konkret soll geprüft werden, welche Verantwortung Staaten und die internationale Staatengemeinschaft gegenüber von Völkermord bedrohten Bürgern haben. Diese Eingrenzung erscheint notwendig, da andere Menschenrechtsverletzungen, wie sie im Ergebnisdokument zur Schutzverantwortung erläutert sind, andere Beurteilungen und Lösungen zur Folge haben können. Laut Artikel II der UN-Völkermordkonvention versteht man unter Völkermord „die an einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe begangenen Handlungen: 1. Tötung von Mitgliedern der Gruppe. 2. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe. 3. Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen. 4. Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind. 5. Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. Die Handlungen müssen in der Absicht begangen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (UN-Völkermordkonvention 2021).
4. Analyse der Ergebnisverantwortung
4.1 Ergebnisverantwortung von Heimatstaaten
Zunächst einmal gilt es die Ergebnisverantwortung des Heimatstaates im Hinblick auf das Verbrechen des Völkermordes zu untersuchen, um im weiteren Verlauf eine mögliche Abhilfeverantwortung anderer Staaten oder der internationalen Gemeinschaft zu begründen. Wie aus Kapitel 2 zur Schutzverantwortung hervorgeht, impliziert staatliche Souveränität den Schutz und die Sicherheit der eigenen Bevölkerung. Dass dieses Recht kein absolutes ist, geht bereits auf Hobbes Zeitalter des Absolutismus zurück, in dem die Macht des Souveräns oder des Staates eingeschränkt war, wenn dieser eine Gefahr für das Individuum darstellte, oder nicht willens oder in der Lage gewesen ist, die auf seinem Gebiet lebende Bevölkerung zu schützen (Welsh 2010: 285). Die Ausführung eines Völkermords durch nicht-staatliche Gruppen oder staatliche Sicherheitskräfte und Akteure impliziert, dass der Staat nicht willens ist, für den Schutz seiner Bevölkerung zu sorgen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Staat aufgrund der unterlassenen Ausübung seines Gewaltmonopols die Tötung oder den beabsichtigten Schaden an einer bestimmten Gesellschaftsgruppe billigend in Kauf nimmt, sodass diesem folglich Ergebnisverantwortlichkeit zugeschrieben werden kann. Da es sich beim Völkermord um eine planmäßige und im großen Maße systematische Handlung handelt und das damit verfolgte Ziel als vorhersehbar einzuordnen ist, macht es für die Ergebnisverantwortlichkeit des Staates keinen Unterschied, ob die Tat von offiziellen staatlichen Bevollmächtigten oder anderen nicht-staatlichen Agenten ausgeführt wird (Vetlesen 2000: 523; Zanetti 2010: 376). Darüber hinaus führt das unterlassene Eingreifen des Staates gleichermaßen dazu, dass dieser eine moralische Verantwortlichkeit auf sich lädt.
Fehlende staatliche Strukturen können ebenfalls der Grund dafür sein, dass ein Staat seiner Schutzverpflichtung nicht nachkommt und so Raum für Menschenrechtsverletzungen geschaffen wird (Fragile State Index 2020). Trotz möglicher Schwächen muss auch in diesem Fall dem betroffenen Staat die Ergebnisverantwortlichkeit zugeschrieben werden. Die Verpflichtung zum Schutz eigener Bürger muss nicht zwingend mit aktiven Maßnahmen wie der Einberufung des Militärs einhergehen, sondern kann auch passive Mittel umfassen. Dazu zählt z. B. die direkte Kontaktaufnahme zu internationalen Organisationen oder anderen Staaten, die entweder dabei helfen können, die staatlichen Strukturen wiederherzustellen, sodass die Schutzverpflichtung gegenüber der Bevölkerung verstärkt wird oder ihre eigenen Truppen entsenden, um die Bürger des hilferufenden Staates zu schützen2. Das Ausbleiben solcher Handlungen bzw. die Entscheidung zum Nichtstun macht daher auch fragile Staaten ergebnisverantwortlich (Rudolf 2015: 23). Die Ergebnisverantwortlichkeit besteht auch dann, wenn fragile Staaten um Hilfe bitten, da Völkermord immer mit vorheriger Diskriminierung oder Gewaltausübung gegenüber einer bestimmten Gruppe zusammenhängt und Präventivmaßnahmen frühzeitig ergriffen werden können (Vetlesen 2000: 520; DGVN 2017: 4). Insofern macht sich ein Heimatstaat schuldig, da er die frühzeitigen Risikofaktoren ignoriert und die Entwicklung hin zu einem Völkermord zugelassen hat. Anders verhält es sich mit der Beurteilung moralischer Verantwortlichkeit, denn wenn ein Staat „could not have avoided bringing those consequences about, no matter how hard he tried, he cannot be held morally responsible” (Miller 2004: 246).3 Abschließend lässt sich festhalten, dass Staaten für die im eigenen Land begangenen Völkermorde immer ergebnisverantwortlich sind, während die moralische Verantwortungszuweisung unterschiedlich beurteilt werden kann.
4.2 Ergebnisverantwortung von Drittstaaten
Wie sieht es mit der Ergebnisverantwortung anderer Staaten in Bezug auf Völkermord aus? Ist es möglich eine Verbindung herzustellen, die anderen, externen Akteuren eine Form von Ergebnisverantwortlichkeit zuschreibt? Wichtig ist hier, dass die nach Miller definierte outcome responsibility nur dann vorliegt, wenn ein vorhersehbarer Zusammenhang zwischen einer Handlung X und einem Ergebnis Y vorliegt (Souter 2014: 332). Im Zusammenhang mit dem Völkermord in Srebrenica stellte sich die Frage, ob Serbien durch seine politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung der bosnischen Serben gegen die Völkermordkonvention verstoßen und damit zum Genozid beigetragen hatte. Der Internationale Gerichtshof entschied zwar, dass Serbien nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, gleichwohl habe es nicht seine Verpflichtung erfüllt, Völkermord zu verhindern. Ungeachtet der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs ist davon auszugehen, dass das Handeln Serbiens zumindest dazu beigetragen hat, die paramilitärischen Truppen aktiv zu stärken, die wiederum den Völkermord verübt haben. Hinzu kommt, dass Serbien seinen vorhandenen Einfluss auf die bosnischen Serben bewusst nicht ausübte (ebd.: 46). Aus der Perspektive einer vernünftigen Person war davon auszugehen, dass Serbiens Handeln das Blutvergießen weiter unterstützt und zum Völkermord beiträgt. Somit ist der Staat wegen seiner Unterstützung als mittelbar ergebnisverantwortlich für das in Srebrenica verübte Massaker zu bewerten.
Wie der oben erwähnte Fall verdeutlichte, kann dem Staat Serbien aufgrund seiner Involvierung und der Nähe zu den paramilitärischen Truppen Ergebnisverantwortlichkeit zugeschrieben werden. Weiterhin stellt sich die Frage, in welchem Maße andere Staaten für das begangene Verbrechen ergebnisverantwortlich sein können. Gemäß Art. I der Völkermordkonvention verpflichten sich die Vertragsparteien dazu, ein solches Verbrechen zu verhindern und zu verhüten (UN-Völkermordkonvention 2021; Bird 2011: 887). Basierend auf dem Wortlaut und den geschichtlichen Ereignissen ist klar festzustellen, dass alle Vertragsparteien ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind. Unklar bleibt jedoch, ob die anderen Staaten vorhersehen konnten, dass ihr ausbleibendes Mitwirken (fehlende Handlung X) zur Verübung des Völkermordes (Ergebnis Y) führte. Anders als bei Serbien, dem eine klare Verbindung unterstellt werden kann, ist davon auszugehen, dass andere Staaten den Völkermord zwar nicht beabsichtigten, aber möglicherweise vorhersehen konnten, dass ausbleibendes Eingreifen dieses Verbrechen zur Folge haben könnte. Die Ergebnisverantwortung würde folglich auch für andere Drittstaaten vorliegen, wenn die Vorhersehbarkeit tatsächlich gegeben war. Dies kann jedoch nur am Einzelfall und anhand der konkreten Umstände entschieden werden.
Der Völkermord in Srebrenica veranschaulicht, dass aktive Handlungen, die Beteiligung in Form von Unterstützungsleistungen oder Passivität das Vorliegen von Ergebnisverantwortung begründen können. Auch die finanzielle und politische Unterstützung von menschenrechtsverletzenden Regierungen macht Drittstaaten zu mittelbaren Komplizen (Souter 2014: 326). Das Völkermordverbrechen in Ruanda stellt ein weiteres Beispiel dar, für den Drittstaaten ergebnisverantwortlich gemacht werden können. So haben unter anderem Südafrika, Israel und Frankreich Ruanda mit unzähligen Waffen ausgestattet, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits intensive ethnische Spannungen herrschten (Carey et al. 2010: 57). Grundsätzlich ist der Verkauf von Waffen unproblematisch, wenn der Verkäufer vernünftigerweise erwarten kann, dass diese zur Verteidigung dienen. Im Fall Ruanda war allerdings davon auszugehen, dass die gelieferten Waffen dafür genutzt werden, die ethnischen Auseinandersetzungen weiter auszutragen (Carey et al. 2010: 49). Insofern sind neben der Heimatregierung auch die obigen Staaten ergebnisverantwortlich.
Abschließend lässt sich also festhalten, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch Drittstaaten für die Verübung von Völkermorden ergebnisverantwortlich gemacht werden können. Während in erster Linie die Heimatregierung für das Verbrechen ergebnisverantwortlich ist, tragen Drittstaaten Ergebnisverantwortung, wenn sie Täterstaaten oder -Gruppierungen vorhersehbar dazu verhelfen, Gräueltaten zu verüben oder sich aktiv gegen ein Einschreiten entscheiden, obwohl Anzeichen für das Verbrechen vorliegen. Moralisch verantwortlich machen sich dagegen all die Staaten, die nicht alles dafür tun, den Völkermord zu stoppen.
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1 Miller verdeutlicht am Beispiel unterernährter und medizinisch schlecht versorgter irakischer Kinder die Schwierigkeit bei der Zuschreibung von Abhilfeverantwortung. Es stellt sich die Frage, welche Akteure dafür verantwortlich waren, das Leiden der Kinder zu verhindern. Lag es in der Verantwortung der Vereinten Nationen bzw. der westlichen Staaten oder beim ehemaligen Machthaber Saddam Hussein? Oder war doch vielleicht die irakische Bevölkerung verantwortlich, etwas an ihrer Situation zu ändern? (Miller 2001: 453).
2 Hierbei soll verdeutlicht werden, dass Staaten immer eine Möglichkeit haben zu agieren und das Fehlen staatlicher Strukturen nicht von Ergebnisverantwortlichkeit entbindet. Darüber hinaus ist es für die eigene Ergebnisverantwortlichkeit unerheblich, ob internationale Organisationen oder andere Staaten dem Hilferuf folgen.
3 Dieser Fall würde dann vorliegen, wenn der Staat alle ihm möglichen Mittel genutzt hat den Völkermord zu verhindern.