Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Seminars „Aktuelle Theorien der Ethnologie“ und hat zum Ziel, die der Monografie „Nomaden im Transformationsprozess. Kasachen in der post-sozialistischen Mongolei“ von Peter Finke zugrunde liegende Theorie herauszuarbeiten.
Da eine Theorie ohne Empirie wertlos und eine theoriefreie Empirie unmöglich ist, geht es hier darum, den Übergang von Theorie zur Empirie und wiederum zur Ethnografie darzustellen. Aufgrund des beschränkten Rahmens dieser Arbeit erfolgt dies exemplarisch anhand weniger empirischer Beispiele.
Nach einer systematischen Darstellung der Theorie des Neoinstitutionalismus im Kapitel 2 wird im nächsten Kapitel 3 auf die Methodik sowie das Forschungsfeld eingegangen. Im vierten Kapitel geht es dann um die Transformation und darum, wie Menschen den Herausforderungen der veränderten Rahmenbedingungen begegnen. Ein kurzes Resümee im Kapitel 5 schließt die Arbeit ab.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theorie: Neoinstitutionalismus
2.1 Neoklassik und homo Oeconomicus
2.2 Bounded Rationality
2.3 Transaktionskosten
2.4 Prinzipal-Agent-Problem.
2.5 Pfadabhängigkeit
3 Methodik und Forschungsfeld: kasachische Nomaden in der Mongolei
3.1 Forschungsfeld
3.2 Vorgehensweise und Datenerhebung
4 Transformation: „capitalism by design“
4.1 Sozialistische Planwirtschaft: negdel Taryalan
4.2 Privatisierung und Marktwirtschaft
5 Resümee
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Wie wirkt sich ein abrupter Wandel institutioneller Rahmenbedingungen auf individuelles Handeln aus? Dieser Frage geht der Ethnologe Peter Finke1 in seiner Monografie „Nomaden im Transformationsprozess. Kasachen in der post-sozialistischen Mongolei“ (2005) nach. Wie der Titel bereits andeutet, handelt es sich um eine kasachische Minderheit in der Mongolei, die wie viele andere zentralasiatische Länder auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine postsozialistische Transformation durchlaufen hat. Dabei sollte die zuvor planwirtschaftliche Organisation der Gesellschaft durch einen „ capitalism by design “ (Finke 2005: 3) ersetzt werden. Übersehen wurde bei dieser geplanten Transformation freilich, dass sie über einen „Übergang der Produktionsmittel von kollektivem oder staatlichem in privaten Besitz [hinausging] und […] vielmehr einen umfassenden Wandel des institutionellen Rahmens und der ökonomischen und sozialen Beziehungen der Akteure“ beinhaltete (ebd.: XV).
Vor diesem Hintergrund definiert Peter Finke als Ziel seiner Forschung, „den institutionellen Wandel und die Strategien der Betroffenen angesichts der veränderten Rahmenbedingungen darzustellen und zu erklären.“ (ebd.: XVI) Dabei legt er die Theorie des Neoinstitutionalismus als sein „Entdeckungsverfahren“ vorab fest, welches den gesamten Verlauf seiner Forschung bestimmt, von der Erhebung bis zur Analyse und Interpretation der Daten.
Die vorliegende Arbeit entsteht im Rahmen des Seminars „Aktuelle Theorien der Ethnologie“ und hat zum Ziel, die der oben genannten Monografie zugrunde liegende Theorie herauszuarbeiten. Da eine Theorie ohne Empirie wertlos und eine theoriefreie Empirie unmöglich ist, geht es hier darum, den Übergang von Theorie zur Empirie und wiederum zur Ethnografie darzustellen. Aufgrund des beschränkten Rahmens dieser Arbeit erfolgt dies exemplarisch anhand weniger empirischer Beispiele. Nach einer systematischen Darstellung der Theorie des Neoinstitutionalismus im Kapitel 2 wird im nächsten Kapitel 3 auf die Methodik sowie das Forschungsfeld eingegangen. Im vierten Kapitel geht es dann um die Transformation und darum, wie Menschen den Herausforderungen der veränderten Rahmenbedingungen begegnen. Ein kurzes Resümee im Kapitel 5 beschließt die Arbeit.
2 Theorie: Neoinstitutionalismus
Unter dem Begriff der Institution versteht man ein Regelwerk mit entsprechenden formellen und informellen Sanktionsmechanismen, die sicherstellen, dass die Regel möglichst eingehalten werden. Als „handlungsleitende Regeln” (Schmid 2018: 43) sind Institutionen „the rules of the game in a society ... the humanly devised constraints that shape human interaction. ... they structure incentives in human exchange, whether political, social, or economic." (North 1990: 3)
Die klassischen Soziologen und Ökonomen wie Durkheim, Weber, Veblen, Commons, Sombart waren im Grunde alle Institutionalisten mit der Überzeugung, „dass die kulturrelevanten sozialen und wirtschaftlichen Phänomene (ihrer Zeit) aus einer institutionentheoretischen Sicht zu erklären und zu analysieren seien“ (Schmid 2018: 41). Mit der disziplinären Arbeitsteilung zwischen der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften wurde jedoch die Rolle der Institution vor allem aus dem Mainstream der Ökonomik, der Neoklassik, praktisch verbannt. Der Neoinstitutionalismus ist dann erst seit den 1980ern aus der Kritik und in Anlehnung an die neoklassische Ökonomik entstanden. Daher blieb er auch im Gegensatz zum alten Institutionalismus dem methodologischen Individualismus und der Theorie der rationalen Entscheidung verhaftet und erklärt die Existenz und Verfall von Institutionen mit Effizienz- und Kostengründen (ebd.: 49).
Wegen dieser „genetischen“ Verwandtschaft mit der Neoklassik lässt sich der Neoinstitutionalismus besser verstehen, wenn zunächst die neoklassische Theorie dargestellt und dann im nächsten Schritt einer neoinstitutionalistischen Modifizierung unterzogen wird.
2.1 Neoklassik und homo Oeconomicus
In der neoklassischen Ökonomik, die den dominierenden Theoriestrang in den Wirtschaftswissenschaften darstellt, geht es im Kern um die Theorie des rationalen Handels, der das Akteurmodell des homo oeconomicus zugrunde liegt. Der homo oeconomicus hat vor allem drei Eigenschaften, die für seine Interaktion mit der sozialen Umwelt konstitutiv sind und von denen angenommen werden, dass sie dem wahren Wesen der Menschen tendenziell entsprechen: perfekte Rationalität, vollständige Marktinformiertheit und subjektive Nutzenmaximierung.
Unter der Annahme der Knappheit von Ressourcen, die über das Materielle hinaus beispielsweise auch die Zeit bzw. die Lebenszeit umfassen, besagt das Postulat der perfekten Rationalität, dass Menschen frei von jeglichen emotionalen Irrationalitäten stets nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül handeln, mit dem Ziel einer „ optimale[n] Allokation begrenzter Ressourcen zwischen kompetitiven Aktivitäten “ (Görlich 1993: 245). Die Wahl einer Handlung ist dabei mit dem Verzicht auf die alternativen Handlungsmöglichkeiten verbunden, die als Opportunitätskosten bezeichnet werden. Diese werden dann mit dem subjektiven Nutzen der gewählten Handlung abgewogen, sodass der maximal mögliche Saldo erzielt wird (Finke 2005: 5).
Des Weiteren wird vorausgesetzt, dass man über das Marktgeschehen vollständig informiert ist. Man kennt also nicht nur das Spektrum der für ihn infrage kommenden Angebote bzw. Handlungsoptionen, sondern auch deren Nutzen bzw. Opportunitätskosten, damit eine rationale Kalkulation überhaupt vollzogen werden kann. Entscheidend ist dabei das Axiom, dass die Informationsbeschaffung keine Kosten in Form von Zeit, Geld oder Anstrengung verursachen (ebd.).
Laut der neoklassischen Ökonomik kann daher eine optimale Allokation von gesellschaftlichen Ressourcen – auch Begabung und Kompetenzen – nur unter den Konkurrenzbedingungen des Marktes erfolgen, die als „invisible hand“ (Smith 1776: 456) zur gesamtgesellschaftlichen Wohlstandsmehrung führt. Der Staat und alle anderen Institutionen im Sinne einer „visible hand“ führen demnach nur zu den Verzerrungen des Marktes und fallen damit einer effizienten Marktaktivität zur Last (Schimank 2007: 163). Inkonsequenterweise setzt die Neoklassik eine Garantie der Institutionen des Privateigentums und der Vertragsfreiheit für die Existenz eines Konkurrenzmarktes voraus (ebd.: 166).
Die neoklassische Ökonomik ist hinsichtlich ihrer realitätsfernen Annahmen vehement kritisiert worden, was jedoch das neoinstitutionalistische Fundament bildet.
2.2 Bounded Rationality
Die zentrale Kritik richtet sich gegen den Rationalitätsaxiom der Neoklassik. Zum einen wird die Allwissenheit des Menschen in Abrede gestellt, die zumindest in Bezug auf eigene Präferenzen, mögliche Alternativhandlungen und Nutzen bzw. Kosten der Handlungsoptionen notwendig ist, um sich rational für eine bestimmte Handlung entscheiden zu können. Zum anderen spielen altruistische und emotionale Motive nicht selten eine tragende Rolle bei Handlungsentscheidungen, die aus einer strikt rationalen Sicht entweder irrational erscheinen oder nicht kalkulierbar sind. Zudem wird bestritten, dass eine Art universeller Rationalität existiert, die unabhängig von kulturellen Hintergründen ist. Daher ist im Neoinstitutionalismus von „eingeschränkter Rationalität“ des Menschen die Rede (Finke 2005: 6).
2.3 Transaktionskosten
Eine weitere Kritik richtet sich gegen die Null-Transaktionskosten der Neoklassik. Ein Wettbewerbsmarkt, an dem Individuen rational nutzenmaximierend handeln können, setzt voraus, dass jeweilige Tauschpartner über genügend Informationen über die Transaktionsbedingungen verfügen. Die Beschaffung von Informationen und deren Verarbeitung verursachen Kosten, die in einigen Fällen den Nutzen der Transaktion übersteigern können. Auch die Suche nach geeigneten Tauschpartnern ist mit Kosten verbunden, die in Abwesenheit von Märkten sehr hoch sein können. Daher investiert man in nicht-kapitalistischen Gesellschaften viel in der Pflege fester Handelspartnerschaften, die „zu einer Verringerung von Informationskosten beitragen“ (Finke 2005: 8).
Das Konzept der Transaktionskosten bildet im Grunde das Herzstück des Neoinstitutionalismus, denn „Transaktionskosten sind […] der eigentliche Grund für die Existenz von Institutionen“ (ebd.). Ohne gesellschaftliche Institutionen sind sogar Handel, Kooperation und Partnerschaften, deren Grundlage Sicherhit und Vertrauen bilden, kaum denkbar. Auch die freie Marktwirtschaft ist im Grunde eine Institution, die ohne institutionelle Garantie von Privateigentum und Vertragsfreiheit, ohne institutionelle Sanktionen bei Vertragsbruch und ohne die Institution des Vertrauens kaum funktionsfähig ist (Schimank 2007: 166).
Nicht nur die Höhe der Transnationskosten ist wesentlich von bestehenden Institutionen und deren Effizient abhängig, sondern deshalb und vor allem auch „die Richtung von Investitionen und individuellem ökonomischen Verhalten“ (Finke 2005: 7).
2.4 Prinzipal-Agent-Problem
Eine Firma ist auch eine Institution. In seiner Theorie der Firma (1937) begründet der britische Ökonom Ronald Coase (1910-2013) die Existenz von Firmen mit Transaktionskostenvorteilen, die sie aufgrund ihrer institutionell verankerten Organisation gegenüber den Marktmechanismen haben. Die arbeitsvertragliche Bindung von Arbeitern an Unternehmen zum Beispiel sei kostengünstiger als eine tagtägliche Arbeitersuche und ständige Lohnverhandlung auf dem Markt.
Die Institution der Firma ist jedoch mit anderen Formen der Transaktionskosten verbunden, die wegen der Prinzipal-Agent-Beziehungen entstehen können. Prinzipal ist der Eigentümer (Arbeitgeber), Agent der Produzent (Arbeitnehmer). Zentral ist hierbei das Konzept des Opportunismus, das „eine konsequente Anwendung der Prämisse des Eigennutzes“ der Neoklassik darstellt. Demnach handeln Menschen nicht nur eigennutzorientiert, sondern versuchen auch „ihren individuellen Nutzen auf Kosten anderer Akteure oder eines kollektiven Nutzens zu erreichen“ (Finke 2005: 6). In der Abhängigkeitsbeziehung zwischen dem Prinzipal und Agent besteht eine systematische Informationsasymmetrie zugunsten des letzteren, dem „damit die Möglichkeit opportunistischen Verhaltens auf Kosten des Prinzipals gegeben“ ist. Die Kosten entstehen durch die Überwachung des Agenten, die notwendig ist, um seine opportunistische Ausnutzung zu unterbinden. Die Überwachungskosten steigen proportional mit der Organisationstiefe, demnach eine Firma wegen ihrer vertikalen Struktur unter enormen Transaktionskosten untergehen kann (Coase 1937).
2.5 Pfadabhängigkeit
Des Weiteren geht der Neoinstitutionalismus von der Pfadabhängigkeit (path dependency) von institutionellem Wandel aus. „Wandel findet danach nie in einem sozio-ökonomischen Vakuum statt, sondern ist immer von dem zu einem gegebenen Zeitpunkt bestehenden institutionellen Rahmen abhängig.“ (ebd.: 13). Demnach ist ein Systemwechsel, durch den die alten Institutionen abrupt wegfallen und durch neue ersetzt werden müssen, immer mit Komplikationen verbunden. Die Annahmen der Neoklassik und des Neoinstitutionalismus sind, soweit für die vorliegende Arbeit erforderlich, in der Tabelle 1 dargestellt.
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1 Peter Finke ist zurzeit Prof. für Ethnologie an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwer-punkte sind u. a. politische und Wirtschaftsethnologie, sozialer Wandel, post-sozialistische Trans-formation, pastoraler Nomadismus und Normen und Ideologien. Die hier zugrunde gelegte Monografie ist eine überarbeitete Version seiner Dissertation, die er 1999 an der Universität zu Köln einreichte.