Inhalt
1. Einleitung
2. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft
2.1. Zum Begriff „nichteheliche Lebensgemeinschaft“
2.2. Zahlen und Fakten
2.3. Nichteheliche Lebensgemeinschaft als „Durchgangsstadium“ zur Ehe?
3. Das Scheidungsrisiko von Ehen nach einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft
3.1. Die „weeding-Hypothese“
3.2. Die Überprüfung der „weeding-Hypothese“
3.3. Die Selbstselektion der Paare
3.4. Einfluß der Dauer einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vor der Ehe
4. Fazit
1.Einleitung
In Deutschland geht rund jede dritte Ehe zu Bruch; berücksichtigt man die Ehedauer der bisher gescheiterten Ehen und geht von einem Anhalten der derzeitigen Scheidungshäufigkeit aus, dann ist damit zu rechnen, daß 35% aller Ehen im Laufe der Zeit wieder geschieden werden (vgl. Datenreport 1999, S. 43).
Eine berechtigte Frage ist, ob das Leben in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vor der Heirat die nachfolgende Ehe stabilisieren kann. Mit anderen Worten: Ist das Scheidungsrisiko dieser Ehen niedriger, da die beiden Partner die Ehe erst einmal „auf Probe“ gelebt haben? Dies zumindest postuliert die „weeding-Hypothese“; Ehepaare, die vor der Heirat zusammen lebten, sind einem geringeren Scheidungsrisiko ausgesetzt.
Diese Behauptung klingt plausibel, deshalb ist es um so überraschender, daß deskriptive Studien wie der Familiensurvey oder der Mikrozensus das Gegenteil belegen: tatsächlich scheinen Ehepaare, die vorher schon unehelich zusammen lebten, einem erhöhten Scheidungsrisiko ausgesetzt zu sein! Dieser Trend wird nicht nur in deutschen Studien festgestellt, sondern auch in vielen anderen Ländern.
Die erstaunlichen Ergebnisse regten international viele Forschungsarbeiten an; für Deutschland gibt es hingegen nur zwei Studien, die sich der Frage widmen, ob die nichteheliche Lebensgemeinschaft vor der Ehe tatsächlich kausalen Einfluß auf das Scheidungsrisiko hat, oder ob es andere Gründe sind, die das Scheidungsrisiko erhöhen. Beide Arbeiten kommen zu dem Ergebnis, daß die „weeding-Hypothese“ nicht verworfen werden darf, da das erhöhte Scheidungsrisiko durch eine Selbstselektion der Paare, die eine nichteheliche Lebensgemeinschaft eingehen, entsteht.
Vorliegende Hausarbeit wird mit Hilfe der beiden empirischen Studien von Anja Hall und Josef Brüderl et al. (beide 1997) die Frage beantworten, ob voreheliches Zusammenleben die Ehestabilität erhöht und inwieweit die Selbstselektion der Paare die tatsächliche Variable ist, welche das Scheidungsrisiko erhöht.
Bevor jedoch diese zentrale Frage beantwortet werden kann, ist es sinnvoll den Begriff „nichteheliche Lebensgemeinschaft“ genauer zu bestimmen. Aus diesem Grund wird zunächst eine Begriffsdefinition vorgenommen, um Mißverständnisse und Verwechslungen zu vermeiden. Anschließend werden grundlegende demographische Informationen über die nichteheliche Lebensgemeinschaft vermittelt.
Am Ende der Arbeit wird eine Zusammenfassung der Ergebnisse vorgenommen und festgestellt, ob die „weeding-Hypothese“ verworfen werden muß, oder ob sie als bestätigt gelten darf.
2. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft
Die Soziologie hält viele Begriffe für die Lebensform bereit, die in dieser Arbeit als „nichteheliche Lebensgemeinschaft“ bezeichnet wird. Andere übliche Termini sind etwa „Konkubinat“, „Ehe ohne Trauschein“, „freie Partnerschaft“, „Kohabitation“, „Konsensualehe“ und viele andere.
Diese Vielfalt macht es sinnvoll, im Folgenden eine Begriffsdefinition vorzunehmen.
Um deutlich zu machen, wie sehr die nichteheliche Lebensgemeinschaft innerhalb weniger Jahre von der Ausnahme zur gesellschaftlichen Normalität wurde, wird darüber hinaus darauf eingegangen, wie viele nichteheliche Lebensgemeinschaften es in Deutschland gibt und wie sich die Zahlen seit den 70er Jahren verändert haben.
Abschließend wird die Frage diskutiert, ob man bei einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft von einer „Vorstufe zur Ehe“ sprechen kann.
2.1. Zum Begriff „nichteheliche Lebensgemeinschaft“
In der Literatur findet sich keine einheitliche Definition für die Lebensform „nichteheliche Lebensgemeinschaft“. Dies erkennt man schon an der Vielfalt der Begriffe, die „je nach Autor, Fachgebiet und Geschmack“ (Vaskovics / Rupp / Hofmann 1997, S. 20) unterschiedlich verwendet werden.
Das Statistische Bundesamt beispielsweise verwendet eine sehr weite Definition. Nach dieser sind nichteheliche Lebensgemeinschaften „Haushalte, die von einem erwachsenen Mann und einer erwachsenen Frau geteilt werden, die weder miteinander verheiratet noch verwandt bzw. verschwägert sind“ (Schneider / Rosenkranz / Limmer 1998, S. 75).
Der Terminus „Haushalt“ impliziert nach Auffassung der amtlichen Statistik, daß deren Mitglieder gemeinsam wirtschaften.
Diese Definition bringt das Problem mit sich, daß sie die notwendige Existenz einer partnerschaftlichen Beziehung nicht einschließt. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Zahlen des Statistischen Bundesamtes übertrieben groß sind, da auch „Zweckgemeinschaften“ ohne emotionale Bindung der Haushaltsmitglieder erfaßt werden - ganz im Gegenteil.
Dies beruht auf der Tatsache, daß Paare, die zwar zusammenleben, aber getrennt wirtschaften, oder die in einer Wohngemeinschaft mit anderen Personen leben, nicht berücksichtigt werden (vgl. Schneider / Rosenkranz / Limmer 1998, S. 75).
Erst seit 1996 fragt die amtliche Statistik im Mikrozensus direkt nach der Art des Zusammenlebens. Zahlen, die vor dem Mikrozensus 1996 veröffentlicht wurden, sind demzufolge mit Vorsicht zu genießen.
So wichtig die Begriffsbestimmung des Statistischen Bundesamtes auch ist, da die meisten vorliegenden Zahlen auf dessen Daten beruhen, so wenig sinnvoll erscheint sie für die soziologische Betrachtung der Lebensform „nichteheliche Lebensgemeinschaft“. Gerade die Ausklammerung der Notwendigkeit einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen den Haushaltsmitgliedern erscheint besonders problematisch.
Vaskovics et al. schlagen daher eine zweckmäßigere Definition vor, welche sie auch in ihrer Panelstudie zur Untersuchung von unverheirateten Paaren in Bayern zugrunde legen.
Laut dieser ist eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein „auf ledige, heterosexuelle Partner, die zusammenwohnen, eine intime Beziehung zueinander haben und sich selbst als nichteheliche Lebensgemeinschaft begreifen“ (Vaskovics / Rupp / Hoffmann 1997, S.22) eingegrenzter Personenkreis.
Diese Begriffsbestimmung ist sinngleich mit anderen Definitionen aus der soziologischen Fachliteratur (vgl. dazu: Peuckert 1999, S. 70 und Schneider / Rosenkranz / Limmer 1998, S. 67).
2.2. Zahlen und Fakten
Die Entstehung nichtehelicher Lebensgemeinschaften ist eng verbunden mit der Studentenbewegung der 60er Jahre, die diese Lebensform als Gegenmodell zur bürgerlichen Familie propagierte. Zunächst stieß diese Forderung auf gesellschaftliche Ablehnung und war aufgrund des Kuppeleiparagraphen bis zu dessen Abschaffung im Jahr 1972 sogar verboten. Inzwischen haben die nichtehelichen Lebensgemeinschaften „den Ruch des Revolutionären oder Anstößigen verloren. Sie sind zur gesellschaftlich akzeptierten Normalität geworden“ (Schneider / Rosenkranz / Limmer 1998, S.67). Dies belegen auch die folgenden Zahlen.
Die Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften ist in den letzten Jahren rasant angestiegen. Allein im alten Bundesgebiet gab es 1972 nur 137 Tausend, 1996 schon 1,4 Millionen Haushalte mit dieser Lebensform. Rechnet man für das Jahr 1996 die neuen Bundesländer hinzu, ergibt sich eine Summe von mindestens 1,85 Millionen nichtehelichen Lebensgemeinschaften im gesamten Bundesgebiet (vgl. Engstler 1999, S.58f). Die Zahl der Personen, die in einer solchen Partnerschaft leben, ist weiterhin steigend. Neuere Zahlen der amtlichen Statistik weisen auf fast zwei Millionen nichteheliche Lebensgemeinschaften hin (Datenreport 1999, S.40).
Größte Akzeptanz findet die nichteheliche Lebensgemeinschaft bei jungen, meist kinderlosen Paaren. 1995 waren rund zwei Drittel aller unverheirateter Paare, die zusammenlebten, zwischen 18 und 35 Jahre alt. Der Anteil ist im Vergleich zu den alten Bundesländern in Ostdeutschland zwar etwas höher, jedoch lassen sich aus den leicht abweichenden Zahlen keine gravierenden Unterschiede ableiten (vgl. Schneider / Rosenkranz / Limmer 1998, S.75).
Deutliche Abweichungen zeigen sich jedoch, wenn man nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern in Ost und West vergleicht. 1998 lebten im alten Bundesgebiet nur in 21,8%, in Ostdeutschland in 47,9%1 der nichtehelichen Lebensgemeinschaften Kinder (vgl. Datenreport 1999, S.40).
Dieses Phänomen kann man als „noch wirksame Folge einiger Spezifika der Sozialpolitik der DDR“ (Schneider / Rosenkranz / Limmer 1998, S.77) erklären.
2.3. Nichteheliche Lebensgemeinschaften als „Durchgangsstadium“ zur Ehe?
Wie im vorigen Abschnitt erwähnt wurde, genießen nichteheliche Lebensgemeinschaften inzwischen allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz. War es noch vor rund 30 Jahren die Ausnahme, vor der Ehe unverheiratet zusammen zu leben, so ist heute die gegenteilige Situation der Fall: etwa 80 bis 85% aller Ehepaare haben vor der Trauung zusammen gewohnt (vgl. Vaskovics / Rupp / Hofmann 1997, S. 185).
Es erscheint nun die Frage berechtigt, weshalb unverheiratete Paare trotz der Legitimität einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft doch heiraten. Wie die Panelstudie mit einem Beobachtungszeitraum von sechs Jahren von Vaskovics et al. zeigt, überführten 57% der unverheirateten Paare die nichteheliche Lebensgemeinschaft innerhalb dieser sechs Jahre in eine Ehe. Ein geringerer Teil (24%) trennte sich, und ein noch kleinerer Teil (19%) blieb länger als sechs Jahre in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Doch selbst bei dieser kleinsten Gruppe wollte noch rund die Hälfte später heiraten (Vaskovics / Rupp / Hofmann 1997, zit. nach Peuckert 1999, S.79).
Die unverheirateten Paare müssen Gründe haben, weshalb sie sich so oft für die Ehe entscheiden. Bei einer Befragung nach den wichtigsten Heiratsmotiven unter jungen Ehepaaren war „Liebe“ mit über 90% die am häufigsten genannte Antwort. Ein absolut notwendiges Kriterium für die Eheschließung ist die Liebe, allerdings ist sie nur für jeden fünften auch ein hinreichendes Kriterium (vgl. Peuckert 1999, S. 51).
Für die meisten anderen müssen andere Gründe hinzukommen. Eine häufig genannte Vermutung lautet, daß der Wunsch nach einem Kind ein ausschlaggebendes Heiratsmotiv sei. Für die Paare aus dem alten Bundesgebiet ist der Wunsch nach Kindern mit 41% bei den Männern und 47% bei den Frauen nach der Liebe der am zweit häufigsten genannte Grund. In den neuen Bundesländern ist dies jedoch nur für jeden vierten Befragten Ehepartner ein ausschlaggebendes Heiratsmotiv. Man kann somit sagen, daß „die These von der kinderorientierten Ehegründung [...] relativiert werden muß“ (Peuckert 1999, S. 51). Neben der Kinderorientierung sind die Wünsche nach „Sicherheit und Geborgenheit“ und „ein richtiges Familienleben zu führen“ ähnlich bedeutend.
Die Entscheidung zu Heiraten scheint „immer seltener verbindlichen Mustern“ (Matthias 1995, zit. nach Peuckert 1999, S. 52) zu folgen, sondern muß immer häufiger individuell begründet werden.
3. Das Scheidungsrisiko von Ehen nach einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft
In diesem Kapitel wird zunächst die „weeding-Hypothese“ erläutert, bevor sie anhand von Zahlen der amtlichen Statistik überprüft wird. Da die Zahlen
überraschenderweise der Hypothese widersprechen liegt die Vermutung nahe, daß sich das Scheidungsrisiko durch einen Selbstselektionsprozeß erhöht. Das Erklärungsmodell der Selbstselektion der Paare wird daraufhin mit Hilfe der Arbeiten von Anja Hall und Josef Brüderl et al. erklärt und überprüft.
3.1. Die „weeding-Hypothese“
Die „weeding-Hypothese“ besagt, daß eine nichteheliche Lebensgemeinschaft als Testphase für die Partnerschaft gilt und so direkt das Scheidungsrisiko vermindert. Die „Ehe auf Probe“ hat den Zweck, erfolgreiche Partnerschaften auszuwählen und nicht erfolgreiche auszusondern (vgl. Hall 1997, S. 281f).
Dies erklärt sich dadurch, daß in der Zeit des unehelichen Zusammenlebens Paare mit Problemen und Konflikten konfrontiert werden, die Lösungsstrategien erfordern. Kommen während der Probeehe solche Probleme und Konflikte zum Vorschein, für welche die Partner keine Lösungsstrategie „erfinden“, so kann die Partnerschaft noch vor der Heirat aufgelöst werden. Diesen Vorgang, der „die Spreu vom Weizen“ trennen soll, bezeichnet man als „weed-out“ -Prozeß2 (vgl. Hall 1997, S. 282).
Paare, die nicht vor der Heirat zusammengelebt haben, erleben diesen „weedout“-Prozeß in den ersten Ehejahren. Folglich müßte das Risiko einer Scheidung höher sein als bei Paaren, die vor der Trauung schon zusammen gelebt haben, da diese den „weed-out“-Prozeß während des unverheirateten Zusammenlebens erfolgreich durchstanden haben.
Ein „weed-out“-Prozeß findet immer statt, gleichgültig ob in der Ehe oder in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Dies beruht auf der Tatsache, daß bei der Partnersuche zwar manifeste Merkmale der Ehekandidaten wie Bildung, 229 Tausend nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern (vgl. Datenreport 1999, S.40).
Aussehen, Vermögen und dergleichen gewonnen werden, hingegen Informationen über Erfahrungsmerkmale - etwa charakterliche Eigenschaften - unvollständig bleiben. Je unvollständiger die Informationen über den Partner sind, desto größer werden die Konfliktsituationen und somit auch die Wahrscheinlichkeit für eine Trennung (vgl. Brüderl / Diekmann / Engelhardt 1997, S. 206).
3.2. Die Überprüfung der „weeding-Hypothese“
Die Studie von Vaskovics et al. zeigt, daß jede vierte nichteheliche Lebensgemeinschaft scheitert. Mit der „weeding-Hypothese“ bedeutet dies, daß diese Partnerschaften keine geeigneten Lösungsstrategien für die durch das Zusammenleben aufgekommenen Probleme finden konnten und sich deshalb trennen. Die Paare, die heiraten, haben aufgrund der „bestandenen Prüfungen“ in der Probeehe hingegen ein geringes Scheidungsrisiko.
Um so erstaunlicher ist, daß das Scheidungsrisiko von Paaren, die ihre nichteheliche Lebensgemeinschaft in ein Ehe überführt haben, größer ist. Nach Daten des Familiensurveys des Deutschen Jugendinstituts sind Ehen mit vorheriger „Probeehe“ einem 40 bis 60 Prozent höherem Scheidungsrisiko ausgesetzt. Dieser Trend zeigt sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern. Für die USA, Kanada und Schweden liegen ähnlich überraschende Ergebnisse vor (vgl. Hall 1997, S. 277).
Muß die so plausibel klingende „weeding-Hypothese“ verworfen werden? Die Forschung versucht den der „weeding-Hypothese“ widersprechenden scheidungsförderlichen Effekt zu erklären:
a. Das Zusammenleben hat einen direkten Einfluß auf das Scheidungsrisiko. Werden Verpflichtungen während des nichtehelichen Zusammenlebens vermieden und diese Einstellungen in die Ehe übertragen, so leidet darunter die Qualität der Ehe. Folglich ist das Risiko einer Trennung höher (vgl. Newcomb 1987, zit. nach Hall 1997, S. 277).
b. Die Phase des Zusammenlebens vor der Ehe vergrößert die Zeitspanne der Beziehung und somit das Risiko einer Trennung. Plump gesagt bedeutet dies, daß ein Paar, daß beispielsweise fünf Jahre unverheiratet und anschließend fünf Jahre in Ehe gelebt hat insgesamt zehn Jahre Zeit hatte, um sich auseinander zu leben. Bei einem Paar ohne vorheriges unverheiratetes Zusammenleben entfällt diese „zusätzliche Risikozeit“. Diese Erklärung konnte in einigen Studien tendenziell bestätigt werden, andere Studien hingegen widerlegen sie (vgl. Hall 1997, S. 277).
c. Das dritte Erklärungsmodell basiert auf der Hypothese der Selbstselektion der Paare, die eine nichteheliche Lebensgemeinschaft gründen. Diese Paare unterscheiden sich in zwei wichtigen Hinsichten von Paaren, die vor der Heirat nicht zusammen lebten. Zum einen sind sie Träger von soziodemographischen Merkmalen, die ihrerseits mit dem Scheidungsrisiko korrelieren, zum zweiten haben diese Paare eher unkonventionelle Einstellungen gegenüber Ehe und Familie. Dies führt dazu, daß Ehepartner mit den eben genannten Merkmalen schneller bereit sind, die Ehe aufzulösen (vgl. Hall 1997, S. 277).
Von den drei eben genannten Erklärungsversuchen ist die Hypothese der Selbstselektion diejenige, die wissenschaftlich am besten fundiert zu sein scheint und in der Literatur am häufigsten Bestätigung findet. Auch die beiden deutschen Arbeiten von Hall beziehungsweise Brüderl et al. erklären das steigende Scheidungsrisiko nach einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft als einen Scheineffekt. Die „Probeehe“ hat keinen kausalen Einfluß auf die Stabilität der Ehe; vielmehr liegt eine Scheinkorrelation der beiden Variablen vor. Diese Scheinkorrelation wird hervorgerufen durch Drittvariablen.
Im folgenden Abschnitt wird auf die Hypothese der Selbstselektion genauer eingegangen. Dabei wird zunächst geklärt, welches genau die eben erwähnten Drittvariablen sind und welchen Einfluß diese auf das Scheidungsrisiko haben. Ziel dieses Vorhabens ist es, eine von Drittvariabeln bereinigte Zahl zu erhalten. Geht man von der Richtigkeit der „weeding-Hypothese“ aus, dann müßte diese Zahl einen unterdurchschnittlichen Wert für das Scheidungsrisiko haben.
3.3. Die Selbstselektion der Paare
Die Hypothese der Selbstselektion postuliert eine Scheinkorrelation der Variablen „voreheliches Zusammenleben“ und „Scheidungsrisiko“. Dies bedeutet, daß diverse Drittvariablen sowohl positiv mit der Variablen „voreheliches Zusammenleben“ als auch positiv mit der Variablen „Scheidungsrisiko“ korrelieren.
Die Untersuchungen von Hall beziehungsweise Brüderl et al. sind sich darüber einig, daß die folgenden fünf Variablen die Scheinkorrelation hervorrufen3:
a. Kohortenzugehörigkeit
Bis zur Abschaffung des Kuppeleiparagraphen 1972 war ein nichteheliches Zusammenleben illegal. Seitdem ist die Anzahl der Partnerschaften in dieser Lebensform steigend. Parallel zur zunehmenden Akzeptanz der nichtehelichen Lebensgemeinschaften steigt das Scheidungsrisiko selbst an.
b. Wohnortgröße
Nichteheliche Lebensgemeinschaften finden sich eher in der Großstadt als auf dem Land. In der Großstadt ist das Scheidungsrisiko aber auch höher als in ländlichen Regionen.
c. Scheidung der Eltern
Personen, deren Eltern geschieden wurden, entscheiden sich gegen eine frühe Heirat und eher für eine nichtkonventionelle Lebensform. Bei diesen Personen ist die Scheidungsrate höher; sie haben das Scheidungsrisiko ihrer Eltern „geerbt“. Unter anderem wird dies mit ungünstigen Sozialisationsbedingungen und ökonomischen Problemen in Scheidungsfamilien begründet.
d. Religiosität
Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind unter religiösen Menschen weniger verbreitet. Diese Lebensform wird seltener als Alternative zum „heiligen Bund“ der Ehe gesehen. Gleichzeitig haben religiöse Menschen ein geringeres Scheidungsrisiko.
e. Trennungserfahrungen
Menschen, die entweder schon mal in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder einer Ehe gelebt haben, welche gescheitert ist, werden öfter eine nichtinstitutionalisierte Lebensform eingehen. Thesen aus der Familienökonomie behaupten parallel dazu, daß Trennungserfahrungen das Scheidungsrisiko erhöhen, „da weniger Commitment4 in die Ehe eingebracht wird, da bereits erlebt wurde, wie eine Partnerschaft auseinandergehen kann“ (vgl. Hill / Kopp 1995, zit. nach Hall 1997, S. 280).
Tatsächlich stellt man fest, daß wenn man die fünf oben genannten Variablen einbindet, das Scheidungsrisiko von Ehen mit vorangegangener nichtehelicher Lebensgemeinschaft in nicht mehr signifikantem Maße höher st als bei Ehen ohne vorheriges Zusammenleben (vgl. Hall 1997, S. 288). Brüderl et al. stellen sogar ein signifikant verringertes Scheidungsrisiko fest (vgl. Brüderl / Diekmann / Engelhardt 1997, S. 220).
Alle der genannten Variablen erhöhen das Scheidungsrisiko. Besonders stark machen sich die Variablen „Wohnortgröße“, „Scheidung der Eltern“ und „Religiosität“5 bemerkbar.
Eine genaue Angabe, welche Variable nun die größte Auswirkungen auf das Scheidungsrisiko hat, kann nicht gemacht werden. So senkt bei der Untersuchung von Hall die Religiosität das Scheidungsrisiko um 14 Prozentpunkte (vgl. Hall 1997, S. 288), bei der Untersuchung von Brüderl et al. um gar 22 Prozentpunkte (vgl. Brüderl / Diekmann / Engelhardt 1997, S. 214).
Doch auch wenn die Werte in nicht zu unterschätzendem Maße voneinander abweichen, sehen die Autoren beider Studien die Selektivitätshypothese als bestätigt an (vgl. Brüderl / Diekmann / Engelhardt 1997, S. 220 und Hall 1997, S. 289).
Interessant ist, daß ebenso beide Studien zum Ergebnis kommen, daß trotz oft geäußerter Vermutungen höher gebildete Personen nicht häufiger eine nichteheliche Lebensgemeinschaft als Lebensform wählen (vgl. Brüderl / Diekmann / Engelhardt 1997, S. 219). Dies ist eine weitere Bestätigung für die Hypothese der Selbstselektion, da ein höherer Bildungsstatus das Scheidungsrisiko vermindert (vgl. Hradil 1999, S.439).
3.4. Einfluß der Dauer einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vor der Ehe
Obwohl sich die Arbeiten von Hall und Brüderl et al. sehr ähneln gibt es in einem Punkt einen wesentlichen Unterschied. Während für Brüderl et al. „zwischen der Dauer vorehelicher Kohibitation und dem Scheidungsrisiko [...]
kein signifikanter Zusammenhang nachweisbar“ (Brüderl / Diekmann / Engelhardt 1997, S. 216) ist, weist die Arbeit von Hall sehr wohl einen negativen Zusammenhang zwischen den beiden Variablen nach: je länger die nichteheliche Lebensgemeinschaft vor der Eheschließung bestand hatte, desto stabiler ist die nachfolgende Ehe (vgl. Hall 1997, S.292).
Nach ihren Ergebnissen wirkt sich eine kurze Probephase von weniger als 12 Monaten leicht destabilisierend auf die Ehe aus: Das Scheidungsrisiko ist um 26 Prozentpunkte höher als bei Ehen ohne vorherige nichteheliche Lebensgemeinschaft.
Hielt die Probeehe zwischen 13 und 24 Monaten an, dann ist das Scheidungsrisiko durchschnittlich hoch. Der Wert ist um zwei Prozentpunkte höher als bei Partnerschaften ohne Probeehe und somit nicht signifikant höher. Dauert eine nichteheliche Lebensgemeinschaft länger als 25 Monate an, so kann man mit einer leicht stabilisierenden Wirkung auf die Ehe rechnen. Das Ergebnis ist mit acht Prozentpunkten unter dem Wert von Paaren ohne Probeehe allerdings ebenfalls nicht signifikant (vgl. Hall 1997, S. 292).
Dieser Befund bestätigt die „weeding-Hypothese“. Die Paare, die nach einer kurzen Probeehe schon heiraten, haben den „weed-out“-Prozeß noch nicht abgeschlossen und besitzen ein höheres Scheidungsrisiko als diejenigen, welche schon lange vor der Ehe zusammen gelebt haben. Diese Paare haben den „weed-out“-Prozeß aufgrund ihrer längeren Partnerschaft schon viel wahrscheinlicher hinter sich gebracht. Folglich ist ihr Scheidungsrisiko niedrig.
4. Fazit
Das zunächst überraschende Ergebnis, daß eine nichteheliche Lebensgemeinschaft die angeschlossene Ehe schwächt, kann auf eine Scheinkorrelation zurückgeführt werden. Diese wird von Variablen hervorgerufen, die sowohl positiv mit der Akzeptanz einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, als auch positiv mit dem Scheidungsrisiko korrelieren. Die Scheinkorrelation wird als Selbstselektion bezeichnet; Personen die aufgrund ihrer soziodemographischen Merkmale (z.B. Kohortenzugehörigkeit, Wohnregion, Grad der Religiosität und so weiter) und wegen ihrer liberaler Ansichten gegenüber der Ehe ohnehin schon ein erhöhtes Scheidungsrisiko haben, entscheiden sich häufiger für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft. Folglich ist das erhöhte Scheidungsrisiko nicht auf das voreheliche Zusammenleben an sich zurückzuführen.
Aufgrund dieser Feststellungen muß die Hypothese der Selektion der Paare bestätigt werden. Somit darf die „weeding-Hypothese“ nicht verworfen werden.
Trotzdem darf man im Gegenzug die „weeding-Hypothese“ nicht als bestätigt ansehen.
Dies liegt zum einen daran, daß es für Deutschland bisher nur zwei Arbeiten gibt, die sich mit diesem Thema befassen. Die im Ausland durchgeführten Studien kommen zwar zu ähnlichen Resultaten, doch kann man diese Ergebnisse nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragen. Will man die „weeding-Hypothese“ für den deutschen Raum bestätigen, dann müssen sich mehr Forschungsarbeiten mit diesem Thema beschäftigen.
Zum anderen sind sich diese beide Arbeiten zwar im Ergebnis einig, doch kommen die Autoren auf unterschiedlichen Wegen zum Ziel. Einigkeit herrscht bei der Selektivitätshypothese. Bei der Arbeit von Brüderl et al. reicht die Bereinigung der Werte durch Entfernung der Scheinvariablen aus, um ein signifikant vermindertes Scheidungsrisiko festzustellen. Bei der Arbeit von Hall erhält man nach diesem Prozeß zwar auch stark verminderte Werte für das Scheidungsrisiko, doch sind diese immer noch überdurchschnittlich hoch. Erst wenn man die Dauer der nichtehelichen Lebensgemeinschaft vor der Ehe berücksichtigt, erhält man einen unterdurchschnittlichen Wert für das Scheidungsrisiko - dieser ist aber nicht signifikant. Brüderl et al. sehen keinen Zusammenhang zwischen der Dauer des vorehelichen Zusammenlebens und dem Scheidungsrisiko.
Ob man die „weeding-Hypothese“ endgültig annehmen darf, wird die Zukunft zeigen. Setzt sich der Trend fort, daß Paare vor der Heirat zunächst einige Zeit unehelich zusammen leben, dann lassen zunehmend auch die Selektionsverzerrungen nach. Schon heute leben bei uns 80 bis 85 Prozent der späteren Ehepaare vor der Heirat zusammen, in Schweden und Dänemark sind es nahezu 100 Prozent (Trost 1989, S.367, zitiert nach Schneider / Rosenkranz / Limmer 1998, S. 88). Erreicht die Quote der nichtehelichen Lebensgemeinschaften in Deutschland einen ebenso hohen Wert, dann ist mit keinerlei Selektionsverzerrungen mehr zu rechnen und es wird sich zeigen, ob die „weeding-Hypothese“ endgültig bestätigt werden kann.
Literaturliste
Brüderl, Josef / Diekmann, Andreas / Engelhardt, Henriette 1997: Erhöht eine Probeehe das Scheidungsrisiko? Eine empirische Untersuchung mit dem Familiensurvey, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, S. 205-222
Engstler, Heribert 1999: Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographischen Entwicklung in Deutschland, 5. Auflage, Filderstadt: W. E. Weinmann
Hall, Anja 1997: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“. Eine empirische Untersuchung zum Einfluß vorehelichen Zusammenlebens auf das Scheidungsrisiko, in: Zeitschrift für Soziologie 26, S. 275-295
Hradil, Stefan 1999: Soziale Ungleichheit in Deutschland, 7. Auflage, Opladen: Leske und Budrich Peuckert, Rüdiger 1999: Familienformen im sozialen Wandel, 3. Auflage, Opladen: Leske und Budrich
Schneider, Norbert F. / Rosenkranz, Doris / Limmer, Ruth 1998: Nichtkonventionelle Lebensformen. Entstehung - Entwicklung - Konsequenzen, Opladen: Leske und Budrich
Statistisches Bundesamt (Hg.) 2000: Datenreport 1999. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, München: Olzog
Vaskovics, Laszlo A. / Rupp, Martina / Hofmann, Barbara 1997: Lebensverläufe in der Moderne 1: Nichteheliche Lebensgemeinschaften. Eine soziologische Längsschnittstudie, Opladen: Leske und Budrich
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1 In absoluten Zahlen bedeutet dies für Westdeutschland 327 Tausend, für die neuen Bundesländer
2 (to) weed out (engl.): aussondern, Unkraut jäten. Anekdote am Rande: Klijzing prägte den Begriff „weed-out“ und verstand die englische Bedeutung des Wortes wohl auch wörtlich. Im folgenden Zitat benutzt er die Metapher des Unkrautjätens: „The ‚weeding‘ hypothesis considers each person as a gardener cultivating his or her plot of live“ (Klijzing 1992, S. 54, zit. nach Hall 1997, S.282).
3 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Arbeiten von Anja Hall 1997, S.279-281 und Josef Brüderl et al. 1997, S.214-220.
4 Commitment (engl.): Verpflichtung, Engagement
5 Die Variable „Religiosität“ korreliert als einzige der fünf angesprochenen Variablen negativ mit dem Scheidungsrisiko. Aus diesem Grund wird bei der Auswertung in beiden Untersuchungen der Kehrwert verwendet, damit auch dieser Variablenwert ein erhöhtes Scheidungsrisiko erzeugt.
- Arbeit zitieren
- Olgierd Cypra (Autor:in), 2001, Das Scheidungsrisiko von Ehen nach einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/102553