Inhalt:
1. Einleitung
2. Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität: Empirische Befunde
3. Moralentwicklung und ihre Implikationen
3.1 Moralentwicklung und Institution
3.2 Moralentwicklung und institutioneller Wandel
3.2.1 Institutioneller Wandel und geschlechtsspezifische Probleme
4. Interdisziplinäre Lösungsvorschläge
5. Ausblick
1. Einleitung
Die Gesellschaft, in der die Menschen um die Jahrtausendwende leben, sucht noch ihren Namen. Während Luhmann von der "Funktional Differenzierten Gesellschaft" ausgeht[1], das Individuum als quasi außerhalb der Gesellschaft stehend betrachtet, und welche ihrerseits ein undurchsichtiges, sich weitgehend autonom organisierendes Kommunikationssystem darstellt, spricht Habermas von einer "Postnationalen Konstellation"[2], in der die Individuen (wieder) die Chance erlangen, sich politisch zu mobilisieren im Sinne der Citoyennité. Ulrich Beck versteht das "Lamento über den Werteverfall"[3] als Unvermögen der Generation der Älteren, die Reaktion der Heranwachsenden auf das bestehende, institutionalisierte, vermachtete nationalstaatliche System, sowie auf den "Marktfundamentalismus"[4], nachzuvollziehen, die sich - mit hochpolitischen Konsequenzen - der Politik (wie sie bisher gemacht wurde) zu entziehen. In diesen Tagen findet der Rücktransport des aufgearbeiteten Atommülls aus Frankreich nach Gorleben statt; Menschen zeigen zu Tausenden ihren Widerstand. Vor dieser Realität von Werteverfall zu sprechen, wäre wohl kaum plausibel.
Gleichwie man dem Strukturwandel gegenübersteht - ob optimistisch oder mit Grauen vor der Zukunft: Niemand kann die sozialen Folgen der Globalisierung, die zwar viele Gewinner, jedoch noch mehr Verlierer hervorbringt, leugnen. Prozesse wie Globalisierung, Entnationalisierung, etc., bedeuten zunächst, und besonders für junge, heranwachsende Menschen, eine gewisse Unübersichtlichkeit, den Wegfall gewohnter Sicherheiten. Globalisierung verlangt hohe Mobilität, Entnationalisierung bedeutet, daß sich Identitätsstrukturen wandeln: kollektive Identitäten verflüssigen sich, Feind- und Freundbilder, wie sie z.B. der Kalte Krieg zuließ, werden relativiert.
Vor diesem Hintergrund scheint das Phänomen der Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität nachvollziehbar: Der Verlust der kollektiven Nationalidentität, die "Ferne der Politik", die Unsicherheit der jeweils eigenen Zukunft weckt die Sehnsucht nach geordneten Strukturen. Jugendliche finden Sicherheit in den Identitäten von kleineren Gruppen und Gruppierungen, womöglich treibt sie der Mobilitätsdruck, und die mit ihr zusammenhängende Unsicherheit in den Drogenkonsum, in die Krimninalität. Eltern sind ihrerseits, jedoch auch mit Blick auf ihre Kinder vor solche Probleme gestellt - und oftmals ratlos.
Die Aufgabe von Experten, die sich mit diesen Symptomen beschäftigen, wie es Mediziner, Juristen, Pädagogen, Psychologen und Polizisten sind, wird es sein, adäquat zu reagieren. Vor dem Hintergrund anwachsender Probleme, wie sie oben angedeutet sind und dem Rationalisierungsdruck durch staatliche Institutionen, wird eindeutig eine interdisziplinäre Herangehensweise gefordert[5], um den Schwierigkeiten in ihrer Multidimensionalität zu begegnen.
2. Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität: empirische Befunde 1999
Die Polizeiliche Kriminalstatistik, die das Bundeskriminalamt (BKA) zum Berichtsjahr 1999 im Internet veröffentlicht[6], läßt augenscheinlich aufatmen: der Anteil tatverdächtiger Kinder ist von 1998 zu 1999 um 1,4 % gesunken, der Anteil tatverdächtiger Jugendlicher im gleichen Zeitraum um 1,9%. Der besorgniserregende allgemeine Aufwärtstrend seit 1993 konnte sich somit nicht fortsetzen. (siehe Abbildung 1 im Anhang)
Bemerkenswert, jedoch nicht weniger besorgniserregend ist jedoch die Qualität der Delikte. Der Vergleich der Berichtsjahre 1998 und 1999 zeigt zwar einen Rückgang der Delikte wie Diebstahl, schwerer Diebstahl und Raub. Betrugsdelikte nahmen jedoch bei Jugendlichen um 2,5% zu, Rauschgiftdelikte um 7,9%.
Dramatischer ist jedoch der Trend mit Blick auf diejenigen Delikte, die allgemein mit Gewalt zusammenhängen: Sachbeschädigung und Körperverletzung.
Die Zunahme tatverdächtiger deutscher Jugendlicher im Deliktsbereich Körperverletzung beträgt im Vergleich 1998 - 1999 8,5%, im Deliktsbereich Sachbeschädigung 4,1%.
Ein noch höherer Anstieg verzeichnete sich in der Betrachtung der Entwicklung tatverdächtiger deutscher Kinder. Im Deliktsbereich Sachbeschädigung besteht ein Anstieg um 4,8%, im Deliktsbereich Körperverletzung um 15,6. Ähnlich stark ist der Anstieg bei nichtdeutschen Kindern, weniger jedoch bei den nichtdeutschen Jugendlichen. (siehe Abbildung 2 und 3 im Anhang)
3. Moral und Kriminalität
3.1 Moralentwicklung und ihre Implikationen
Sowohl die Soziologie, als auch die Kriminologie greifen auf Theoriebestände der Entwicklungspsychologie zurück. Die "Stufen des Moralischen Bewußtseins" nach Kohlberg[7] bilden einen wichtigen Baustein in der Betrachtung der Entwicklung von Moralbegriffen in der Kindheit und der Adoleszenz. Habermas implementiert die Theorie in seine "Theorie Kommunikativen Handelns"[8] bzw. entwickelt an der Kohlbergschen Moralkonzeption die Rekonstruktion einer kritischen Gesellschaftstheorie[9]. Die Lernliteratur der deutschen Polizei baut teilweise auch auf diese Konzeption auf[10].
Kohlberg wollte für die Moralentwicklung - ähnlich wie J. Piaget es bei der Kognitiven Entwicklung versucht hat - eine Entwicklungslogik nachweisen. Moral entwickele sich demnach in irreversiblen, diskreten Stufen, wobei die nächsthöhere die vorhergehende einschließt, assimiliert und aufhebt und mit ihr ein höheres Niveau bildet.
Moralentwicklung nach Kohlberg findet in drei Stadien (Niveaus) statt, die sich jeweils in zwei Stufen einteilen.[11] Hier interessieren unter der Fragestellung nach Jugendkriminalität und Kinderdelinquenz besonders die Dimension "Die Gründe, das Rechte zu tun", sowie die "Soziale Perspektive der Stufe".
Kohlberg geht hierbei von einem entwicklungslogischen Bildungsprozess aus[12], die Stufen unterscheiden sich mit Blick auf den Moralbegriff am Grad der Universalisierung un der Abstraktion. Das erste, präkonventionelle, Niveau (I) teilt sich in die Stufen (1) punishment - obiedience und (2) instrumental hedonism; in der ersten Stufe werden Handlungen konkret dem äußeren Erscheinungsbild der Akteure zugerechnet, die eigene Perspektive wird mit der des Gegenüber verwechselt. Diese Stufe ist gekennzeichnet durch Egozentrismus; Regeln werden befolgt, da ihre Übertretung mit Strafe bedroht ist. Mit der zweiten Stufe reift das Bewußtsein über konkurrierende Bedürfnisse der Personen in der unmittelbaren Umwelt. Gerechtigkeit ist relativ, wird pragmatisch angewandt. Das konventionelle Niveau, besonders der Übergang zum darauffolgenden ist für die Betrachtung des Themas besonders interessant; es bezeichnet den Lebensabschnitt, von dem etwa ein Kind in die Schule kommt. Kohlberg nennt es das "konventionelle Niveau" (II), weil das Kind nunmehr lernt, als Träger verschiedener Rollen in verschiedenen Kontexten bestimmte Funktionen zu erfüllen. Es orientiert sich an heteronomen Moralstandpunkten innerhalb primärer Gruppen, an konkreten "goldenen Regeln", ist sich bestimmten Erwartungen, die aus seiner Umwelt an es herangetragen werden, bewußt; diese dritte Stufe nennt Kohlberg "the good-boy-orientation" (3). In der nächsten Stufe "law-and- order-orientation" (4) erweitert sich der moralische Horizont auf sekundäre Gruppen, auf das Normensystem, etwa wie die einer kulturellen Gemeinschaft oder des Nationalstaates, durch welche Rollen und Normen festgelegt werden. Im höchsten Niveau (III), dem postkonventionellen, erreicht der Heranwachsende / der Jungerwachsene mit der fünften Stufe, der "social-contractual-legality-orientation", (5) das Bewußtsein von Werten und Rechten, die Bindungen und Verträgen womöglich vorgeordnet sind. Es ist eine konfliktreiche Stufe, da möglicherweise Legalität und Moralität miteinander in Konkurrenz stehen. Während letzten Stufe nach Kohlberg13
(6) der "ethical-principled-orientation" folgt das Individuum selbstgewählten ethischen Prinzipien. Es handelt aus dem Glauben an universalgültige moralische Prinzipien, fühlt ihnen gegenüber eine persönliche Verpflichtung, und sieht dieses Recht in jeder anderen Person. Normen leiten sich im allgemeinen von Prinzipien her. Im Konfliktfalle gilt dem Prinzip die Präferenz.
Die letzte Stufe ist nach Kohlberg empirisch selten anzutreffen.
Unter den Prämissen einer solchen - von ihren Grundlagen her offensichtlich noch aktuellen - Theorie verbietet sich eine einseitige, etwa ausschließlich juristisch Betrachtung des Ausgangsproblems.
Die Frage stellt sich, ob das System, die Institutionen in ihrer bestehenden Struktur in der Lage sind, adäquat auf die Krisen seiner Heranwachsenden zu reagieren.
[...]
[1] LUHMANN, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag 1997
[2] HABERMAS, Jürgen: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. 1. Aufl. Frankfurt am Main : Suhrkamp 1998, 91, ff
[3] BECK, Ulrich: Wider das Lamento über den Werteverfall. In: Ders (Hrsg.): Kinder der Freiheit. 4. Aufl. Frankfurt am Main : Suhrkamp 1998, S. 9, ff
[4] ebenda, S. 24
[5] siehe in: Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig - Holstein (Hrsg.): Konzepte zur Kriminalitätsverhütung. Prävention von Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität. Kiel 1999, S. 141, ff
[6] siehe www.bka.de/pks/pks1999/inhalt1.htm am 26.03.2000
[7] KOHLBERG, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung. 1.Auflage. Frankfurt am Main : Suhrkamp 1995, S. 128,ff
[8] HABERMAS, Jürgen: Theorie des Kommunikativen Handelns. Band 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main : Suhrkamp 1999, S. 260
[9] ders.: Moralentwicklung und Ich - Identität. In: Zur Rekonstruktion des Historischen
Materialismus. 6. Aufl. Frankfurt am Main : Suhrkamp 1995
[10] BURGHARDT, Waldemar; HAMACHER, Hans-Werner (Hrsg.): Lehr - und Studienbriefe Kriminologie. Nr.12 Jugendkriminalität / von Stefan Kerner. Hilden/Rhld. : Verlag deutsche Polizeiliteratur 1996, S. 64, ff
[11] siehe Anlage
Häufig gestellte Fragen
Was ist das Hauptthema des Textes?
Der Text befasst sich mit Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen wie Globalisierung und Entnationalisierung, wobei die Bedeutung von Moralentwicklung und interdisziplinären Lösungsansätzen betont wird.
Welche empirischen Befunde zur Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität werden im Text genannt?
Die Polizeiliche Kriminalstatistik für 1999 zeigt einen Rückgang der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen im Vergleich zum Vorjahr. Allerdings gibt es eine Zunahme von Betrugs- und Rauschgiftdelikten bei Jugendlichen sowie eine Zunahme von Sachbeschädigung und Körperverletzung sowohl bei deutschen Kindern als auch bei Jugendlichen.
Welche Theorie zur Moralentwicklung wird im Text diskutiert?
Die "Stufen des Moralischen Bewußtseins" nach Kohlberg werden als wichtiger Baustein zur Betrachtung der Entwicklung von Moralbegriffen in Kindheit und Adoleszenz dargestellt. Kohlbergs Theorie geht von einer Entwicklungslogik der Moral in irreversiblen Stufen aus, wobei die höchste Stufe (ethisch-prinzipienorientiert) empirisch selten anzutreffen ist.
Welche Implikationen hat die Theorie der Moralentwicklung für die Betrachtung von Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität?
Die Theorie von Kohlberg impliziert, dass eine einseitige, z.B. ausschließlich juristische Betrachtung des Problems nicht ausreichend ist. Es stellt sich die Frage, ob das System und die Institutionen in ihrer bestehenden Struktur in der Lage sind, adäquat auf die Krisen ihrer Heranwachsenden zu reagieren.
Welche gesellschaftlichen Veränderungen werden als Faktoren für Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität genannt?
Globalisierung, Entnationalisierung und der damit verbundene Wegfall gewohnter Sicherheiten, die "Ferne der Politik" und die Unsicherheit der eigenen Zukunft werden als Faktoren genannt, die die Sehnsucht nach geordneten Strukturen wecken und Jugendliche in kleinere Gruppen oder in Drogenkonsum und Kriminalität treiben können.
Was bedeutet Interdisziplinarität im Kontext der Bekämpfung von Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität?
Interdisziplinarität bedeutet, dass Experten aus verschiedenen Bereichen (Medizin, Jura, Pädagogik, Psychologie, Polizei) zusammenarbeiten müssen, um den Schwierigkeiten in ihrer Multidimensionalität zu begegnen. Eine interdisziplinäre Herangehensweise wird vor dem Hintergrund anwachsender Probleme und Rationalisierungsdruck durch staatliche Institutionen als notwendig erachtet.
Welche Kritik wird an Kohlbergs Theorie geübt?
Es wird angedeutet, dass Habermas behauptet, Kohlberg habe die Beweislast für seine Entwicklungslogik nicht eingelöst. Zudem wird angemerkt, dass Habermas' eigene Herleitung einer Entwicklungslogik in den Bildungsprozessen von Moralentwicklung und Ich-Identität undurchsichtig und fehlerhaft sei.
- Arbeit zitieren
- Hannes Barske (Autor:in), 1999, Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität unter den Vorzeichen der Globalisierung, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/102146