Die Verbkategorie 'werden' erweist sich als Chamäleon des deutschen Verbsystems und ist Anlass zahlreicher Theorien um seine Entstehung als Futurgrammem. Diese Arbeit thematisiert Theorien um seine Entstehungsgeschichte und skizziert die historische Abfolge. Im Anschluss folgt eine Korpusanalyse, die die konstruktionelle Variabilität von 'werden' genauer untersucht. Aus synchroner Sicht übernimmt 'werden' nicht nur die Funktion als Auxiliar in verschiedenen Hilfsverbkonstruktionen wie beispielsweise Passiv, Konjunktiv oder Futur, sondern kann auch als inchoatives Kopulaverb, epistemisches Modalverb oder selten auch als Vollverb auftreten.
Dieser Funktionsreichtum von 'werden' ist zugleich auf einen wichtigen Prozess des Sprachwandels zurückführbar, die sogenannte Grammatikalisierung. Darunter versteht man den Prozess der Entstehung und Weiterentwicklung grammatischer Morpheme bis hin zu ihrem Untergang. Das Verb 'werden' war gleich bei mehreren Grammatikalisierungsvorgängen beteiligt. Betrachtet man die grammatischen Funktionen von 'werden', wird schnell ersichtlich, dass das polyfunktionale und polysemantische Verb ein Produkt der Polygrammatikalisierung ist.
So diente das althochdeutsche 'werdan' als Spenderlexem für zahlreiche unterschiedliche grammatikalische Kategorien, Klassen und Konstruktionen, die über Sprachperioden hinweg gewachsen und entstanden sind. Besonders die Genese von 'werden + Infinitiv' als analytische Tempuskategorie stellt dabei einen wichtigen und zugleich undurchsichtigen Abschnitt in der Geschichte der Grammatikalisierung als Futurgrammem dar.
Inhalt
1. Einführung: werden + Infinitiv als „Streitpunkt“ der Linguistik
2. Forschungsüberblick zur Entstehung von werden + Infinitiv als Futurmarker
3. Zur Geschichte des Futurs im Deutschen
4. Korpusgestützte Untersuchung zur Ablösung der Modalverben als Futurmarker
4.1. Die Fragestellung
4.2. Methodik und Korpora
4.3. Korpusuntersuchung
4.4. Zur Subjektivierung in der Grammatikalisierung
5. Resümee
6. Literaturverzeichnis
Zur Genese von werden + Infinitiv als Futurmarker - Diachrone Überlegungen
1. Einführung: werden + Infinitiv als „Streitpunkt“ der Linguistik
Die Verbalkategorie werden erweist sich gewissermaßen als „Chamäleon“ des deutschen Verbalsystems und ist Anlass zahlreicher Theorien um seine Entstehung als Futurgrammem. Aus synchroner Sicht übernimmt werden nicht nur die Funktion als Auxiliar in verschiedenen Hilfsverbkonstruktionen wie beispielsweise Passiv, Konjunktiv oder Futur, sondern kann auch als inchoatives Kopulaverb, epistemisches Modalverb oder selten auch als Vollverb auftreten. Dieser Funktionsreichtum von werden ist zugleich auf einen wichtigen Prozess des Sprachwandels zurückführbar, die sogenannte Grammatikalisierung. Unter Grammatikalisierung versteht man den „Prozess der Entstehung und Weiterentwicklung grammatischer Morpheme bis hin zu ihrem Untergang“ (Szczepaniak, 22011: 5). Das Verb werden war gleich bei mehreren Grammatikalisierungsvorgängen beteiligt. Betrachtet man die grammatischen Funktionen von werden, wird schnell ersichtlich, dass das polyfunktionale und polysemantische Verb werden ein Produkt der Polygrammatikalisierung ist. So diente das althochdeutsche werdan als Spenderlexem für zahlreiche unterschiedliche grammatikalische Kategorien, Klassen und Konstruktionen, die über Sprachperioden hinweg gewachsen und entstanden sind (vgl. Nübling/Dammel, 52017: 318). Besonders die Genese von werden + Infinitiv als analytische Tempuskategorie stellt dabei einen wichtigen und zugleich undurchsichtigen Abschnitt in der Geschichte der Grammatikalisierung von werden als Futurgrammem dar. So unterscheidet es sich von den Futurbildungen anderer germanischer Sprachen und wird aufgrund seiner Sonderstellung nicht zuletzt von Forschern wie der Linguistin Elisabeth Leiss als „weiße[r] Fleck in der Sprachgeschichte des Deutschen" bezeichnet (Leiss, 1985: 251). Grund für diese Aussage ist einerseits die Faktenlage zahlreicher, meist unbefriedigender Hypothesen zur Diachronie von werden + Infinitiv und andererseits die seit den 60er Jahren aufkommende Frage, ob das Deutsche überhaupt eine Tempuskategorie „Futur“ besitzt, wobei Letzteres nicht Gegenstand dieser Arbeit sein soll (vgl. Schmid, 2000: 6). Das Theorienspektrum reicht hier von lautlichen Abschleifungstendenzen, angenommenen Synkretismus- und Vermischungsphänomenen über sprachexterne Einflüsse hin zu möglichen Analogiebildungen (vgl. Krämer, 2005: 72-89). Die Forschungslage zum Sein und Werden der analytischen Tempuskategorie werden + Infinitiv gleicht daher einem linguistischen Potpourri an möglichen Erklärungsansätzen, wobei nicht alle zur Erhellung der historischen Entstehung beitragen. Obgleich die These theoretisch überzeugen mag, so scheitert sie meist im Abgleich mit den historischen Entwicklungen. Kaum Kritik erfährt in diesem Zusammenhang jedoch die Analogietheorie, welche zunächst von Wilhelm Wilmanns vorgebracht wurde und aus diachroner wie synchroner Sicht überzeugende Argumente liefert. Demnach sei das Aufkommen der neuhochdeutschen Futurperiphrase mit hoher Wahrscheinlichkeit auf analoge, althochdeutsche Infinitivkonstruktionen wie beispielsweise mit beginnan und gistantan, zurückführbar (vgl. Szczepaniak, 22011: 145-146).
Auf dem Theorem der Analogiethese aufbauend soll weiterhin der Frage nachgegangen werden, weshalb die etablierten Modalverben als Futurkategorie von der niederfrequenten Konstruktion werden + Infinitiv abgelöst werden konnten. Dazu soll eingangs ein kurzer Forschungsüberblick zu bestehenden Theorien geliefert werden, wobei diese gegeneinander abgewogen werden sollen. Dieser Überblick soll in einem ersten Schritt Aufschluss über die Entstehung der Konstruktion im Allgemeinen geben, sodass im weiteren Verlauf die Ursachen für die Etablierung von werden + Infinitiv gegenüber der modalen Futurkategorie genauer analysiert werden können. Dabei soll die historische Entwicklung des Futurs skizziert werden. In diesem Kapitel wird schnell ersichtlich, inwiefern die Modalverben eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Futurgrammem werden spielten. Auch hier bietet die Forschung einen multikausalen Ansatz, wobei das Argument der konstruktionellen Variabilität mittels einer Korpusuntersuchung gestützt werden soll. Daran angeschlossen erfolgen nähere Betrachtungen des Grammatikalisierungsgrades von werden und mögliche Begründungen dafür. Ziel der Arbeit ist es, zu zeigen, dass die konstruktionelle Variabilität von werden einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Modalverbgefüge darstellte, wobei sich ähnliche Entwicklungen auch bei der Entstehung des Passivauxiliars abzeichnen.
2. Forschungsüberblick zur Entstehung von werden + Infinitiv als Futurmarker
Konsens der älteren Forschung war die sogenannte „Abschleifungstheorie“. Dabei gingen Forscher wie Karl Weinhold und Fedor Bech davon aus, dass das periphrastische werden-Futur Ergebnis einer lautlichen Entwicklung sein musste, bei welcher die Partizipialendung -ende zur Infinitivendung -en abgeschliffen wurde. Infinitiv und Partizip Präsens waren lautlich wie formal nicht mehr voneinander zu trennen, sodass sich die Periphrase werden + Infinitiv aus der ursprünglichen Periphrase werden + Partizip Präsens herausbildete (vgl. Harm, 2001: 290). „Folgenreich war der Ausfall des d, so dass ene, apocopirt en für ende entstund, was zur Vermischung des Partic. mit dem Infin. namentlich in den mit sein und werden umschriebenen Formen [...] führte.“ (Weinhold, 21883: 397). Fedor Bech führte in diesem Zusammenhang zahlreiche Belege für ein abgeschliffenes Partizip Präsens an (vgl. Krämer, 2005: 73). Diese These wurde lange Zeit von Sprachforschern wie Otto Behaghel anerkannt und sogar in einige neuere Handbücher wie der „Deutschen Sprachgeschichte“ von Peter von Polenz aufgenommen (vgl. Schmid, 200: 6). Die moderne Linguistik übt an dieser Theorie jedoch harte und vor allem begründete Kritik, da vor allem Argumente aus sprachgeographischer wie sprachhistorischer Sicht die Hypothese falsifizieren. Wegweisend waren in diesem Zusammenhang die Gegenargumente von Laurits Saltveit. Wie Bech bereits feststellen konnte, beweisen Ergebnisse der Sprachgeographie, dass der Abschleifungsprozess ein Spezifikum des niederdeutschen Sprachgebietes ist, wohingegen die Etablierung des analytischen Futurs mit werden seinen Anfang im oberdeutschen Sprachgebiet nahm (Leiss, 1985: 250). Außerdem führte Saltveit Quellenbelege für die Periphrase werden + Infinitiv aus alt- und frühmittelhochdeutscher Zeit an, die sich jedoch nicht mit den deutlich jüngeren Abschleifungstendenzen deckten. Der Infinitiv kann daher nicht als Produkt von lautlicher Abschleifung sein (vgl. Saltveit, 1962: 174-177).
Aber auch Laurits Saltveits Autonomiethese einer spontanen Entstehung stößt an ihre Grenzen. Demnach habe sich das deutsche werden-Futur aus zwei semantisch wie syntaktisch unterschiedlichen Strukturen, dem werden + Partizip Präsens und werden + Infinitiv, herausgebildet. Laut Saltveit tritt werden + Infinitiv nicht als sekundäre Erscheinung in die Sprache ein, sondern gilt als reguläre syntaktische Verbindung des Deutschen (vgl. Westvik, 2000: 236-239). Außerdem plädiert der Linguist auch für die sogenannte Modalitätsthese. Demzufolge habe die eigenständige Fügung werden + Infinitiv weniger temporale, sondern hauptsächlich modale Bedeutung. Als Beleg führt Saltveit die in den oberdeutschen Dialekten vorhandene inchoative Verwendung von werden + Partizip Präsens an. Lediglich in Kombination mit sogenannten Zeitsemantemen wie bald oder morgen erhalte die Konstruktion temporale Bedeutung (vgl. Schmid, 2000: 8). Obgleich der Fügung werden + Infinitiv eine modale oder temporale Semantik inhärent sind oder sie eine reguläre syntaktische Struktur ist, so bleibt der Ursprung ihrer Entstehung ungeklärt (vgl. Westvik, 2000: 239).
Trotz erheblicher Kritik war die Theorie der Abschleifung Impulsgeber für weitere Denkansätze zur Genese des Futurgrammems. Die Synkretismus- oder Konfusionstheorie von Mathilde Kleiner hat ebenfalls das Hervorgehen der Konstruktion werden + Infinitiv aus der Partizipal- konstruktion zur Basis, wobei es hier weniger zur Abschleifung als zur Vermischung der Endungen des Partizip Präsens und dem flektierten Infinitiv kam. Denn bereits im Alemannischen des 13. Jahrhunderts sei die Endung -ende des Partizips in die Flexionsendungen des Infinitivs übergegangen. Die teilweise parallele Flexion führte dann zu einer Reinterpretation der Partizipform als Dativform des Infinitivs. Hauptargument war das Eindringen partizipialer Endungen in den Dativ des Infinitivs, was möglicherweise zur Verwechslung und schließlich zur Vermischung beitrug (vgl. Harm, 2001: 290-291). Dies habe „rückwirkend auch zum Gebrauch des Inf. statt des Part, nach werden geführt“ (Kleiner, 1925: 58). Die Verwechslungsannahme deckt sich jedoch nicht mit mittelhochdeutschen Frequenzbefunden. So stellte man fest, dass „der Dativ des Inf. im Mittelhochdeutschen so gut wie ausschließlich in der Position nach der Präposition ze vorkam“ (Harm, 2001: 291), Partizip Präsens hingegen wurde in diesem Kontext jedoch nie verwendet. Hinzu kommt die Tatsache, dass der flektierte Infinitiv zu den Marginalien des Mittelhochdeutschen zählte. Weiterhin haben sich die Untersuchungen zur Synkretismushypothese von Mathilde Kleiner hauptsächlich auf das Alemannische gestützt, was zur Vernachlässigung anderer Sprachlandschaften führt (vgl. Harm, 2001: 291).
Eine von den beiden Hauptsträngen der Diskussion abweichende These stellt Elisabeth Leiss auf, da sie als Ursache für die Entstehung der werden + Infinitiv Periphrase externe Sprachfak- toren heranzieht. Demnach sei „werden + Inf das Ergebnis deutsch-tschechischen Sprachkon- takts“ (Leiss, 1985: 251). Denkanstoß gaben die „Beobachtungen und Gedanken über das analytische Futurum im Slavischen“ von K. Rösler, der die Herkunft des slavischen *bgdg+ Infinitiv zu erklären versuchte, wobei bereits hier Konstruktionsanalogien zur deutschen Futurbildung werden + Infinitiv erkannt wurden (vgl. Leiss, 1985: 251). Denn auch die slavischen Sprachen bilden die Tempuskategorie Futur mithilfe des Auxiliarverbs sein + Infinitiv. Die Theorie des tschechischen Sprachkontaktes nimmt somit eine Umkehrung der Theorie Röslers vor. Während Rösler die deutsche Konstruktion zur Vorlage hat, nimmt Elisabeth Leiss die tschechische Periphrase *bgdg+ Infinitiv als Konstruktionsschablone für das heutige werden-Futur an. Leiss betont aufgrund dieser hohen Übereinstimmung, dass „die Parallelität dieser Konstruktionen auf keinen Fall unterschätzt werden [darf], ist sie doch außer im Deutschen und im Slavischen in sonst keiner indoeuropäischen Sprache nachweisbar.“ (Leiss, 1985: 252). Diese Übereinstimmung als Ursache für die Entstehung von werden + Infinitiv als analytische Futurform des Deutschen wird in der Forschung jedoch aufgrund des wenig tiefgreifenden Einflusses des Tschechischen auf das substrathöhere Deutsche abgelehnt (vgl. Harm, 2001: 293). Zudem scheinen Unstimmigkeiten in der Chronologie des tschechischen Sprachkontaktes und dem Aufkommen der analytischen Futurbildung im Deutschen die These Leiss zu schwächen (vgl. Schmid, 2000: 9). Eine weitere Schwierigkeit bildet die Annahme einer zunächst mündlichen und später schriftlichen Entlehnung der Futur-Periphrase. Dagegen spricht, dass die Futurkategorie werden fast ausschließlich im elaborierten, vor allem schriftsprachlichen Gebrauch verwendet wurde und sich nicht in den Dialekten des Deutschen wiederfindet, sodass ein mündlicher Erstkontakt auszuschließen ist (vgl. Harm, 2001: 293).
Eine sehr überzeugende Alternative zu den vorgestellten Theorien bildet die Annahme analogischer Prozesse. Zuerst wurde die Analogiethese von Wilhelm Wilmanns formuliert, wobei er vor allem bereits vorhandene Ingressivkonstruktionen wie beginnen oder enstân + Infinitiv als Analogieschema betont. Im Anschluss an die Überlegungen Bechs habe so auch der Infinitiv das Partizip Präsens ersetzt (vgl. Wilmanns, 21906: 177-179). Als weitere Entstehungsquelle werden von der Forschung auch die Modalverbkonstruktionen mit Infinitiv angenommen. Die Konstruktion soln oder wellen + Infinitiv diente in mittelhochdeutscher Zeit nicht nur als Futurkennzeichen, sondern legte auch aufgrund seiner futurischen Semantik einen Analogieprozess nahe (vgl. Harm, 2001: 292). Hans Ulrich Schmid führte diesen Gedanken weiter, indem er die Kontaminationshypothese1 aufstellte. Kontamination meint in diesem Zusammenhang den „Vorgang, daß sich zwei sinnverwandte Ausdrucksformen gleichzeitig in das Bewußtsein drängen, so daß infolge davon eine Mischung aus beiden entsteht“ (Schmid, 2000: 14). Die Genese der Periphrase werden + Infinitiv sei demnach Produkt einer Kontamination von Modalverben + Infinitiv und den werden-Fügungen, sodass der „Infinitiv aus gleichfalls zukunftbezogenen Modalverbgefügen analog auf die bislang infinitivlosen werden-Prädikationen übertragen wurde“ (Schmid, 2000: 14). Gestützt werden seine Überlegungen von dem sogenannten 15-Zeichen-Korpus, welcher eine Zeitspanne von sechs Jahrhunderten umfasst und von Endzeitprophezeiungen des Jüngsten Gerichts handelt. Folglich finden sich in diesem Korpus zahlreiche zukunftsbezogene Verbalformen und Verbalkonstruktionen, die jeweils Aufschluss über die Formen zur Bezeichnung von Zukünftigen geben sollen. Tabellarisch listet er die Möglichkeiten zukunftsbezogenes Präsens, Modalverb und werden + Infinitiv auf. Aufgrund des analogen Gebrauchs beider Formen für ein und dasselbe Ereignis, folgert Schmid, dass es zu einer gegenseitigen Beeinflussung der formalen Strukturtypen gekommen sei (vgl. Schmid, 2000: 11-14).
Einige Forscher wie Gabriele Diewald und Mechthild Habermann liefern jedoch Argumente gegen eine Analogiebildung aus der Quelle der Modalverbkonstruktionen. Während die Modalverben als Futurmarker in der mittelhochdeutschen Sprachperiode ihre modale Semantik nie wirklich ablegen konnten, eignet sich das Futurgrammem werden aufgrund seines ingressiven und zukunftsaffinen Charakters gut für eine reine Tempuskategorie ohne modale Restbedeutung. Demnach schließen Diewald und Habermann die Modalverben als Entstehungsquelle aus und plädieren dagegen für eine Genese in Analogie zu Infinitivkonstruktionen, die werden in seiner Bedeutung ähnlich sind und eine ingressive Semantik aufweisen, wie beispielsweise be- ginnan oder gistandan + Infinitiv. Die Kombination mit dem Infinitiv galt dabei als eine Art Signalmarker für ingressive Semantik, weswegen Diewald und Habermann die Bezeichnung „Phasenverben“ anführen (vgl. Diewald/Habermann, 2005: 235-238). Problematisch an dieser Annahme ist jedoch die Tatsache, dass sich werden + Infinitiv nicht als Aspektform, sondern als Futurkategorie durchsetzen konnte (vgl. Szczepaniak, 22011: 146).
Der Forschungsüberblick bestätigt nicht nur die eingangs vorgetragene Formulierung von Eli- asbeth Leiss, sondern lässt auch die Analogiethese mit kleineren Variationen dennoch als Sieger hervorgehen. So folgert auch Volker Harm, dass bei allen „Versuchen, die Frage nach der Entstehung der neuhochdeutschen Futurperiphrase zu klären, die Analogiehypothese die plausibelste Antwort [gibt]“ (Harm, 2001: 293-294).
3. Zur Geschichte des Futurs im Deutschen
Die Tempuskategorie Futur entwickelte sich relativ spät, erst in den Sprachperioden Spätmittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch kann man von einer Grammatikalisierung des werdenFuturs sprechen. Frühe Konstruktionsbelege finden sich in Quellen des 13. Jahrhunderts und Anfang des 14. Jahrhunderts. Hier lassen sich Nachweise für einen grammatikalischen Gebrauch von werden + Infinitiv finden (vgl. Westvik, 2000: 235-239). Das Althochdeutsche besaß dahingegen nur zwei synthetisch gebildete Tempora, nämlich Präsens und Präteritum. Ein ausgebildetes Futur gab es noch nicht, stattdessen drückte man Zukünftiges meist über die bekannte Zeitkategorie Präsens (vgl. ich gehe morgen nach Münster) aus, wobei die Referenz auf Zukünftiges meist durch Zeitsemanteme oder Adverbien wie morgen konkretisiert wurden. Obwohl werden im Althochdeutschen bereits polyfunktionale Erscheinungsformen wie beispielsweise als Kopulaverb oder Passivauxiliar aufwies, gab es zu dieser Zeit keine Kombinationsbelege mit dem Infinitiv (vgl. Nübling/Dammel u.a., 52017: 318-319). Lediglich die Konstruktion werden + Partizip Präsens diente damals zur Bezeichnung einer ingressiven oder inchoative Aktionsart (vgl. Harm, 2001: 88).
Erst im Mittelhochdeutschen beginnen sich periphrastische Futurformen herauszubilden, welche zunächst mit den Modalverben suln/süln und seltener mit wellen, müezen oder mugen + Infinitiv gebildet wurden, wobei der modale Charakter die Bedeutung stark mitbestimmte (vgl. Diewald/Habermann, 2005: 234). Joan L. Bybee stellte hier fest, dass die modale Komponente eine wichtige Zwischenstufe bei der Entwicklung zu einer reinen Futurform ist, wobei die intentionale Lesart auf der modalen aufbaut. Er schlägt hierzu folgenden Entwicklungsgang vor (vgl. Bybee et al., 1991: 26-29):
Abb. 1: Entwicklungsstufen der Modalverben zu Futurmarkern (nach Bybee et al., 1991: 29)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dennoch haben die deutschen Modalverben nie die Stufe der intentionalen Lesart hin zum reinen Futur überschritten. Mittels der Kombination Modalverb + Infinitiv konnte man aber einen Zukunftsbezug wie beispielsweise in „du wilt von ir grozen scaden gewinnen“ (zit. nach Nübling/Dammel, 52017: 319) herstellen. Diese Entwicklung der Modalverben als Futurmarker erscheint im Vergleich zu anderen germanischen Sprachen keineswegs ungewöhnlich. So finden sich auch in anderen germanischen Sprachgebieten oftmals Modalverben als Futurauxiliare. Skandinavien beispielsweise drückt zukünftige Handlungen über das norwegische skulle (,sollen^ und ville (,wollen‘) aus (vgl. Nübling/Dammel, 52017: 318). Auch Joan L. Bybee konnte belegen, dass der Gebrauch und die Grammatikalisierung von Modalverben als Futurmarker ein Phänomen darstellt, das über das Deutsche hinausreicht. Sowohl die Modalverben sollen und wollen als auch die Bewegungsverben gehen und kommen gelten in diesem Zusammenhang als universelle Grammatikalisierungspfade (vgl. Bybee et. al., 1994: 265). Neben dem Luxemburgischen ist das Deutsche somit die einzige Sprache, die werden als Futurhilfsverb verwendet (vgl. Szczepaniak, 22011: 143-144).
Seltener als das Modalverbgefüge findet man im Mittelhochdeutschen dagegen die Kombination werden + Infinitiv. „Sowohl gegenüber den werden + Part. Präs.-Konstruktionen als auch gegenüber den mit soln/wellen + Inf. gebildeten Futurumschreibungen sind [Verbindungen mit dem Infinitiv] erheblich seltener überliefert“ (Harm, 2001: 289). Und doch werden die modalen Futurauxiliare von der neuen Konstruktion werden + Infinitiv knapp zwei Jahrhunderte später verdrängt und in ihrer temporalen Funktion entschärft (vgl. Schmid, 2000: 19). Die Grammatikalisierung der Modalverben zu reinen Futurgrammem wurde gebremst. Besonders im 14. und 15. Jahrhundert kam es zu einer Zurückdrängung der werden + Partizip Präsens Formen sowie der futurisch verwendeten Modalverbgefüge. Besonders im Zuge des 15. und 16. Jahrhunderts findet ein Umschichtungsprozess statt, der eine klare Frequenzzunahme der periphrastischen Futurkategorie werden + Infinitiv und einer starke Abnahme der Tokenfrequenz bisheriger Futurbezeichnungen vorsieht. 1996 konnte Bogner dies anhand einer Untersuchung eines recht umfangreichen Korpus aus der Zeit von 1350 bis 1700 belegen. Während die Verwendung von werden + Infinitiv zwischen 1350 und 1400 bei knapp 15% lag, ist in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein deutlicher Frequenzanstieg von 40% zu verzeichnen. Dieser nahm auch im 16. und 17. Jahrhundert kontinuierlich zu, sodass die Konstruktion Modalverb + Infinitiv auf weniger als 20% zurückgedrängt wurde (vgl. Bogner, 1989: 74-78). „Die Entwicklung von werden zum Futurmarker hat ganz offensichtlich den Grammatikalisierungsprozess der Modalverben zu Futuren gebremst.“ (Diewald/Habermann, 2005: 232).
Dabei wies werden beim Eintritt in den Grammatikalisierungsprozess insbesondere eine ingres- sive Semantik wie beispielsweise in „er ward klagen “ auf und kennzeichnete dabei weniger eine Zeitstufe als eine Aktionsart (vgl. Harm, 2001: 289). Mit der Zunahme der werden-Konstruktionen vollzog sich zeitgleich auch ein semantischer Wandel von werden. Das althochdeutsche werden + Partizip Präsens mit seiner ingressiven Bedeutungskomponente verschwand zunehmend, stattdessen wurde die Semantik von werden zu einem inchoativen werden neutralisiert (vgl. Szczepaniak, 22011: 145). Ob dieser aspektuelle Charakter für eine Grammatikalisierung als Futurmarker dienlich war, darüber streitet die Forschung. Auch Bybee deutet diesen Restruktuierungsvorgang als Anomalie in der historischen Linguistik. Seiner Forschung nach dienen Lexeme mit perfektiver aspektueller Ausgangssemantik selten als Spender für Futur- grammeme (vgl. Bybee et al., 1994: 254-266). Die Entwicklung von werden als anfänglichen Ingressivmarker zum Futurmarker ist somit nicht nur als Spezifikum der deutschen Sprache zu verstehen, sondern zeichnet sich auch durch eine relativ lange Übergangsperiode, „in der die grammatische Bedeutung zwischen Tempus und Aktionsart schwankt und sich erst allmählich die Futurbezeichnung als alleinige Funktion herauskristallisiert“, aus (Harm, 2001: 289).
[...]
1 Der Begriff der „syntaktischen Kontamination“ geht dabei auf Hermann Paul zurück (vgl. Paul, 51920: 160164).