In der Arbeit werde ich die Bedeutung der Privatheit für eine moderne demokratische Gesellschaft aus politisch-philosophischem Blickwinkel schrittweise entwickeln und diskutieren. Den Ausgangpunkt für dieses Vorhaben soll das Freiheitsprinzip von John Stuart Mill aus seinem Werk „Über die Freiheit“ bilden. Diese eingerastete liberale Perspektive soll einerseits dazu verhelfen, die grundsätzliche Bedeutung von Privatheit zu explizieren und andererseits erlauben, bei Erklärungsschwierigkeiten neue Begriffe und Erklärungsmuster aus dem derzeitigen akademischen Privatheitsdiskurs hinzuzuziehen.
Die Frage nach dem Verhältnis und der Abgrenzung von privater und öffentlicher Sphäre ist keineswegs eine, die erst durch die rasanten technologischen Fortschritte des 20. und 21. Jahrhunderts entstanden ist. Die herausragende Bedeutung dieser Fragestellung für das Grundverständnis des gesellschaftlichen Zusammenlebens, hat bereits John Stuart Mill erkannt, indem er anmerkt, dass diese Frage sich allen Anzeichen nach schon bald als die Überlebensfrage für die Gestaltung der Zukunft erweisen wird. Gewiss aber entfachen neuerdings die digitalen Entwicklungen und deren Konsequenzen, zu denen sowohl das Abgreifen unzähliger personenbezogener Daten von privatwirtschaftlichen „Datenkraken“ wie Facebook, Google, Twitter etc. als auch die Ausweitung staatlicher Überwachungsmaßnahmen zur Gewährleistung innerer Sicherheit zu zählen sind, eine Debatte um das Austarieren der Grenzlinie zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Die Kontroversität dieser Diskussion soll kurz mit Hilfe zweier beliebter Sichtweisen aufgezeigt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Prinzip bei John Stuart Mill
3. Das Prinzip von Mill im Spiegel des digitalen Zeitalters
4. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Wert der Privatheit
5. Schluss
Literatur
1. Einleitung
Die Frage nach dem Verhältnis und der Abgrenzung von privater und öffentlicher Sphäre ist keineswegs eine, die erst durch die rasanten technologischen Fortschritte des 20. und 21. Jahrhunderts entstanden ist. Die herausragende Bedeutung dieser Fragestellung für das Grundverständnis des gesellschaftlichen Zusammenlebens, hat bereits John Stuart Mill (1806-1873) erkannt, indem er anmerkt, dass diese Frage „sich allen Anzeichen nach schon bald als die Überlebensfrage für die Gestaltung der Zukunft erweisen wird“ (Mill 2009, S. 5). Gewiss aber entfachen neuerdings die digitalen Entwicklungen und deren Konsequenzen, zu denen sowohl das Abgreifen unzähliger personenbezogener Daten von privatwirtschaftlichen „Datenkraken“ (Wewer 2013, S. 60) wie Facebook, Google, Twitter etc. als auch die Ausweitung staatlicher Überwachungsmaßnahmen zur Gewährleistung innerer Sicherheit zu zählen sind, eine Debatte um das Austarieren der Grenzlinie zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Die Kontrover- sität dieser Diskussion soll kurz mit Hilfe zweier beliebter Sichtweisen aufgezeigt werden. Die eine Personengruppe - meist lässt sie sich dem privatwirtschaftlichen Sektor zuordnen - postuliert mit dem Begriff „Post-Privacy“ bereits das Ende der Privatsphäre, wohingegen andere den Schlüssel zum Umgang mit dem Problem der zunehmenden Kontrolle des Individuums in der Umsetzung totaler Transparenz sehen.
Die grundlegende Problematik für das demokratische Gemeinwesen in beiden (naiven) Vorstellungen zum derzeitigen Stellenwert der Privatheit sollen aufgezeigt werden. Zum Ersten ist die Absurdität der Vorstellung eines allmählich eintretenden Zeitalters von „Post-Privacy“ angesichts unseres liberalen Staatsverständnisses und den heutigen implementierten Freiheitsrechten, wie sie durch einzelne Grundrechte im Grundgesetz oder - noch expliziter - durch das Recht auf Privatsphäre (Artikel 7 und 8 aus der Charta der Grundrechte der europäischen Union) gesichert werden, evident (Wewer 2013, S. 57f.). Die Anhänger totaler Transparenz hingegen erachten die Forderung nach Offenheit von regierungsinternen Abläufen durch das vermeintlich geschädigte Vertrauensverhältnis zwischen Bevölkerung und Abgeordneten als berechtigt und notwendig. Nehmen wir an, wir würden diesem Vorschlag folgen: Dann würde dies in erster Linie die Auflösung der Repräsentationsbeziehung nach sich ziehen, da nunmehr keinerlei „semantische Differenz von Volk und Staat“ (Baumann 2014, S. 403) existiert. Neben dieser faktischen Abschaffung eines konstitutiven Wesensmerkmals unseres heutigen Staatsverständnisses, steigt der Wert des Vertrauens als Gut für die Gesellschaft. Dies kann sich insofern als gefahrvoll für die Demokratie als Ganzes auswirken, als das gesteigerte Maß an Vertrauensbekundungen untrennbar mit einer Zunahme möglicher Vertrauensbrüche verbunden ist (Baumann 2014, S. 403). Aus dem Wunsch nach gesteigertem Vertrauen erwächst also die Gefahr des zunehmenden Misstrauens.
Entgegen der vorgestellten Ansichten zur derzeitigen Entwicklung im Verhältnis von privater und öffentlicher Sphäre, welche beide den grundsätzlichen Wert des Privaten verkennen, setze ich mir zum Ziel, die Fatalität dieser Sichtweisen aufzuzeigen, indem ich die Bedeutung der Privatheit für eine moderne demokratische Gesellschaft aus politisch-philosophischem Blickwinkel schrittweise entwickle und diskutiere. Den Ausgangpunkt für dieses Vorhaben soll das Freiheitsprinzip von John Stuart Mill aus seinem Werk Über die Freiheit bilden. Diese eingerastete liberale Perspektive soll einerseits dazu verhelfen, die grundsätzliche Bedeutung von Privatheit zu explizieren und andererseits erlauben, bei Erklärungsschwierigkeiten neue Begriffe und Erklärungsmuster aus dem derzeitigen akademischen Privatheitsdiskurs hinzuzuziehen.
2. Das Prinzip bei John Stuart Mill
Die Entwicklung des Freiheitsverständnisses bei Mill fußt auf der Erkenntnis, dass es zu seiner Zeit keine anerkannte Maßregel gab, die das staatliche Handeln in ihrer Angemessenheit reguliert. Er diagnostiziert der Gesellschaft eine gewisse Beliebigkeit in ihrem Standpunkt zum legitimen staatlichen Gestaltungsanspruch. Demnach lassen einige Bürgerjedes Regierungshandeln über sich ergehen, solange Unheil von ihnen abgewendet wird, wohingegen anderen der Wert der eigenen Angelegenheiten unantastbar ist und keinerlei begründeter (sicherheitspolitischer) Eingriff in den privaten Bereich gerechtfertigt ist. Um dieser Beliebigkeit im Urteil zum rechtmäßigen staatlichen Gestaltungsanspruch entgegen zu treten, entwickelt er das für sein Werk zentrale Prinzip, welches die grundsätzlichen Eingriffsmöglichkeiten der Gesellschaft in die persönliche Sphäre festlegt (Mill 2009, S. 15).
„Der einzige Grund, aus dem es der Gemeinschaft aller (mankind) gestattet ist, einzeln oder vereint, eines ihrer Mitglieder in der Freiheit seines Tuns zu beschränken, ist der Selbstschutz Und der einzige Zweck, um dessentwillen man mit Recht gegen ein Glied einer gebildeten Gesellschaft Gewalt Gebrauchen darf, ist: Schaden für andere zu verhüten“ (Mill 2009, S. 16).
Mill verleiht mit seinem Prinzip der individuellen Freiheit eine herausragende Rolle, denn ein Eingriff in selbige wird lediglich dann legitimiert, wenn das eigene Handeln die individuelle Freiheit anderer Bürger einschränkt. Auf allen Gebieten, die keinerlei Berührungspunkte mit der Lebenswelt anderer Individuen aufweisen, überwiegt stets - und dies betont er mehrmals - die persönliche Unabhängigkeit (Mill 2009, S. 16, S. 80). Nun ist die Etablierung seines Prinzips nicht gänzlich voraussetzungslos und gefeit vorjeglichen Gefahren. Ein notwendiges und hinreichendes Kriterium stellt die Mündigkeit der Bürger dar. Erst wenn die Menschen diskursiver Umgangsformen mächtig sind, überschreitet das staatliche Mittel des Zwangs die Schwelle der Legitimität zur Illegitimität. Dies bedeutet zwangsläufig, dass, sofern die Prämisse nicht erfüllt ist, der Despotimus, welcher die staatliche Weiterentwicklung zum Ziel hat, eine rechtmäßige Regierungsform darstellt. Weiterhin schließt Mill Heranwachsende mit einem Alter unterhalb der Vollj ährigkeitsgrenze von seinem Prinzip aus - sie bedürfen schließlich der Fürsorge und dem Schutz vor ihrem eigenen Handeln (Mill 2009, S. 16f.). Zu den Gefahren zählt er die Neigung der Menschen zur gesellschaftlichen Konformität. Oft genug, so Mill, denkt das Individuum nicht an seine eigenen Bedürfnisse und Neigungen, sondern richtet sich in seinen Handlungen vielmehr nach gesellschaftlichen Bezugsnormen über die vermeintlich „richtigen“ Verhaltensweisen (Mill 2009, S. 87). Dieser sich immer weiter ausdehnenden Stärke der „Tyrannei der öffentlichen Meinung“ energisch entgegen zu treten, erfordert einen starken Charakter und Mut (Mill 2009, S. 95). Die größte Hürde stellt für ihn die Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Prinzip selbst dar. Die meisten Menschen geben sich mit der Lebensweise, die sich am Handeln der Mehrheit orientiert, zufrieden, ohne sich den Chancen und dem Wert der individuellen Selbstbestimmung bewusst zu werden (Mill 2009, S. 80f.).
An dieser Stelle ist vor dem Hintergrund des Werts des Privaten die folgende Frage interessant: Warum erachtet es Mill für notwendig, dem Individuum überhaupt einen solch weitreichenden Freiheitsraum zuzusprechen? Er verweist - hier werden Parallelen zur Denkweise von Alexis de Tocqueville sichtbar - direkt zu Beginn seines Essays auf die übergeordnete, erdrückende Stellung der Mehrheit gegenüber der Minderheit in den sich zunehmend ausbreitenden demokratischen Staatswesen. Er sieht hierin die Gefahr, der Wille der zahlenmäßig größten Personengruppe könnte die sich in der Minderheit befindenden Bürger unterdrücken. Denn die gemeinhin „vielbesprochene ,Selbstregierung‘ bedeutet nicht, daßjedervon sich selbst beherrscht werde, sondern jeder von allen übrigen“ (Mill 2009, S. 9). Hieraus erschließt sich ihm unmittelbar die Notwendigkeit der Stärkung individueller Rechte als Schutzmechanismus gegenüber der Staatsgewalt (Mill 2009, S. 9). Darüber hinaus enthüllt ein genauerer Blick auf den Wert des Menschendaseins bei Mill einen weiteren Grund: Den Menschen mit den nötigen Freiheiten auszustatten, heißt ihn gedeihen und sich entwickeln lassen; ihn sich seiner eigenen Fähigkeiten, wie Urteilsfähigkeit oder Verstand, nützlich machen zu lassen, um den eigenen Lebensweg nach eigenem Dünken nachgehen zu können (Mill 2009, S. 83f); ihn schlichtweg sein Leben „so zu entwerfen [lassen], wie es [seinem] Charakter angemessen ist [...]“ (Mill 2009, S. 20). Denn, was wäre das für ein Menschenleben, in dem sich die Menschen einer Gleichmacherei unterziehen würden? Mill assoziiert diesen Zustand - wie er ihn seinerzeit in China beobachten konnte - mit Stillstand. Und „wann tritt das [der Stillstand des Volkes, Anm. d. Verf.] ein? Wenn es [das Volk, Anm. d. Verf.] aufhört, Individualität zu besitzen“ (Mill 2009, S. 101). Der Wert der individuellen Freiheit wird an dieser Stelle untrennbar mit dem menschlichen sowie mit dem staatlichen Fortschreiten verbunden: individuelle Freiheit als Voraussetzung für Fortschritt.
Die bisherigen Ausführungen haben vor allem den individuellen Wert des Privaten offenbart, seien es in erster Linie das Schutzrecht gegenüber einer „Tyrannei der Mehrheit“ oder die Möglichkeit, einfach das Beste aus sich zu machen und damit sowohl sich als auch das Staatswesen weiterzuentwickeln. Was können wir nun aber von Mill hinsichtlich eines Beitrags seines formulierten Prinzips für das soziale, demokratische Gemeinwesen lernen? Zu Beginn des Essays können durchaus berechtigte Zweifel an der Beantwortung der Frage aufkommen, wenn er sagt: „Die Menschheit fährt besser, wenn sie zugibt, daß jeder nach eigenem Gutdünken lebt, als wenn siejeden zwingt, so zu leben, wie es den übrigen passt“ (Mill 2009, S. 20). Dieses Bild einer Gesellschaft voller egozentrischer Individuen löst er explizit in seinem Kapitel Über die Begrenzung der Macht der Gesellschaft über den Einzelnen auf, indem er unmissverständlich zu verstehen gibt, „diese Lehre vollkommen mißzuverstehen, wenn man vermute, sie lehre selbstsüchtige Gleichgültigkeit und sie behaupte, daß die Menschen im Leben nichts miteinander zu tun hätten [...]“ und weiterhin in utilitaristischer Manier „eine erhebliche Vermehrung des uneigennützigen Interesses für das Wohl anderer“ fordert (Mill 2009, S. 107). Dennoch bleibt Mill etwas unkonkret in seinen Äußerungen zum Wert der individuellen Freiheit für die Gesellschaft. Wir können ihm zum einen entnehmen, dass die individuelle Selbstbestimmung eine Bedingung für menschliche Wohlfahrt ist (Mill 2009, S. 80). Zum anderen überträgt sich der Nutzen, der für den Einzelnen durch die Entwicklung seiner Individualität entsteht, auch auf andere, denn „wo mehr Leben in der Masse in dem Einzelnen ist, da ist auch mehr Leben in der Masse [...]“ (Mill 2009, S. 89). Auch wenn Mill die soziale Einbettung des Individuums und die Abhängigkeit eines selbstbestimmten Lebens von seiner Umgebung mitdenkt, so erschließt es sich nicht unmittelbar, wie der Wirkungsmechanismus zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl einer demokratischen Gesellschaft begründet werden kann. Diese Argumentationsschwierigkeit nehme ich zum Anlass, umjenen Zusammenhang mittels gegenwärtiger philosophischer Gedanken von Beate Rössler zu erhellen. Bevor ich mich aber diesem Unterfangen widme, werden zuerst die gesicherten Ergebnisse vor dem Hintergrund des derzeitigen Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit reflektiert.
3. Das Prinzip von Mill im Spiegel des digitalen Zeitalters
Blicken wir zurück auf den Grundsatz: Für Mill ist die individuelle Selbstbestimmung das zentrale Gut für Fortschritt und Wohlstand, über die sich nur unter der Voraussetzung eines unrechtmäßigen Eingriffs in die individuelle Freiheit anderer hinweggesetzt werden darf. Dieser Grundsatz offenbart als erstes ein nahezu komplementäres Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit im Vergleich zum derzeitigen digitalen Zeitalter. Wie ist es also um den Wert der individuellen Freiheit im digitalen Zeitalter bestellt?
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