Der Vergleich, dem die politischen Systemen Großbritanniens, Irlands und Islands in dieser Arbeit unterzogen werden sollen, bezieht sich auf die Bereiche Parlament und Verhältnis zur Regierung, Wahlsystem, Parteiensystem sowie Staatsorganisation. Es sollen die charakteristischen Unterschiede aber auch die Gemeinsamkeiten in einzelnen Bereichen herausgearbeitet werden. Besonders dem Vergleich zwischen Großbritannien und Irland kommt vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte besondere Bedeutung zu. Island hingegen läßt sich weit schwerer mit den beiden Erstgenannten in Verbindung setzen, da sich vor allem in den Bereichen Wahl- und Parteiensystem ein Vergleich mit anderen skandinavischen Staaten eher anbietet.
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Wahlrechtsreform in Neuseeland
2. Die Wahlsystemdiskussion in Großbritannien
3. Wahlrechtsreform in Neuseeland – Vorbild für Großbritannien?
Tabellen
Literaturverzeichnis
Einleitung
Bis zum Beginn der neunziger Jahre galt das Wahlsystem in westlichen Demokratien als eine der stabilsten und am wenigsten dem Wandel unterzogenen Institutionen. Wahlrechtsänderungen wurden nur in geringem Maße vorgenommen und in den meisten Fällen nur innerhalb des etablierten Mehrheits- oder Verhältniswahlsystems[1]. Eine Ausnahme bildete lediglich Frankreich, wo innerhalb kurzer Zeit beide Systeme zur Anwendung kamen.
Die Jahre 1993 und 1994 brachten allerdings einen tiefgreifenden Wandel im Bezug auf Wahlrechtsreformen. Innerhalb von vier Monaten fand in drei Ländern ein Wechsel des Wahlsystems hin zu Variationen der personalisierten Verhältniswahl nach deutschem Vorbild statt. Bemerkenswert ist, dass die früheren Wahlsysteme dieser Länder über das gesamte Spektrum der Möglichkeiten reichten. Italien wählte vor der Reform nach dem reinen Verhältniswahlrecht, während in Japan eine Variation der Mehrheitswahl, das single-non-transferable-vote (SNTV) -System, in Verbindung mit Listenwahl zur Anwendung kam[2]. Am gravierendsten gestaltete sich der Wandel allerdings in Neuseeland. Hier wurde das deutsche Wahlsystem nahezu unverändert übernommen.
Diese Arbeit will zum einen die Hintergründe und Ursachen untersuchen, die zur Wahlrechtsreform in Neuseeland geführt haben. Zu diesem Zweck sollen im ersten Teil sowohl Entwicklungen im politischen System als auch gesellschaftliche Veränderungen beschrieben werden, die zu diesem Einschnitt beigetragen haben. Im zweiten Teil wird die Wahlsystemdiskussion in Großbritannien dargestellt. Zum Schluß soll untersucht werden, ob im Vereinten Königreich mit Neuseeland vergleichbare Entwicklungen feststellbar sind, sowie die Aussichten für eine ähnliche Reform erörtert werden.
Mit diesem Ansatz entferne ich mich bewußt von der eigentlichen Fragestellung des Seminars nach dem Wahlsystem als abhängiger oder unabhängiger Variable. Auch wenn nicht ausdrücklich auf diese Frage eingegangen wird, so soll sie deswegen nicht vollkommen außer Acht gelassen werden. Vielmehr ist es vonnöten, sich immer bewußt zu machen, in welchem Kontext das Wahlsystem betrachtet wird. So kann man mit Blick auf die gesellschaftspolitischen Veränderungen, die zu einer Ausdifferenzierung des Parteiensystems und in letzter Konsequenz auch zur Reform des Wahlsystems führen, dieses ohne weiteres als abhängige Variable bezeichnen. Konzentriert man allerdings den Fokus der Betrachtung z.B. allein auf die Auswirkungen des (geänderten) Wahlsystems auf das (zukünftige) Parteiensystem, so muß man das Wahlsystem als unabhängige Variable sehen. Ich werde diese theoretischen Zusammenhänge im Folgenden nicht expressis verbis aufzeigen, bin mir ihres Vorhandenseins aber durchaus bewußt.
1. Die Wahlrechtsreform in Neuseeland
Am 6. November 1993 entschieden die neuseeländischen Wähler in einem zusammen mit der Parlamentswahl abgehaltenen Referendum, ihr bis dahin bestehendes einfaches Mehrheitswahlrecht durch ein personalisiertes Verhältniswahlrecht nach deutschem Muster zu ersetzen. Die Änderung des Wahlrechtes in Neuseeland stellt wohl - abgesehen von der Unabhängigkeit von Großbritannien 1852 - den bemerkenswertesten Einschnitt in die politische Landschaft des Inselstaates dar. Bemerkenswert deshalb, weil Neuseeland lange Jahre als Musterbeispiel des „Westminster“- Modells mit einfacher Mehrheitswahl und starrem Zweiparteiensystem galt.[3]
Die Gründe und Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Zunächst führten gesellschaftspolitische Einflüsse zu einer Ausdifferenzierung des Parteiensystems, dem das die beiden großen Parteien bevorzugende einfache Mehrheitswahlrecht (oder first past the post, FPP[4]) nicht mehr gerecht wurde. Noch 1989 wurde das neuseeländische Parteiensystem als „unquestionably the most robust two-party-system in the world“ bezeichnet[5]. Tatsächlich aber nahm der Prozentsatz der Wählerstimmen, den die beiden großen Parteien, die Labour Party und die National Party, auf sich vereinigen konnten durch das Aufkommen von kleineren Parteien von annähernd 100 % 1951 auf unter 70 % 1993 ab.[6] Dieser Stimmenverlust von Labour und National sorgte dafür, dass der Disproportionseffekt des FPP-Wahlsystems immer stärker zu Tage trat, da diese kleinen Parteien im Vergleich zu ihrer Stimmenanzahl im Parlament unterrepräsentiert waren. So erreichte z.B. die Social Credit Partei 1987 20,7 % der Wählerstimmen, war allerdings nur mit 2 Abgeordneten im Parlament vertreten.[7] Gleichermaßen fiel die Wahlbeteiligung, wenn auch auf einem hohen Level, nämlich von durchschnittlich 90 % zwischen 1954 und 1969 auf 85,2 % bei der Parlamentswahl 1990.[8]
Zum anderen trugen ein wirtschaftlicher Abschwung und die damit verbundenen unpopulären Reformen, sowie die vermeintliche Machtkonzentration in den Händen einer kleinen politischen Elite zur Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den politischen Institutionen bei. In der OECD-Statistik war Neuseeland, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung, zwischen 1950 und 1984 vom dritten auf den 23. Platz zurückgefallen. Schuld an dieser Entwicklung waren vor allem die stark intervenistisch ausgeprägte Wirtschaftspolitik, sowie das sehr großzügig ausgelegte Sozial- und Wohlfahrtssystem des Landes. Erst 1984, auf dem Höhepunkt der Zahlungsbilanzkrise, begann die Labour-Regierung unter Premierminister Lange mit einschneidenden Reformen, die allerdings zunächst eine acht Jahre dauernde Struktur- und Stabilitätskrise auslösten. So stieg die Arbeitslosenquote 1992 auf den historischen Höchststand von 11,2%. Diese im Endeffekt erfolgreichen, aber für die Bevölkerung zunächst sehr schmerzhaften Reformen ließen das Vertrauen in die politischen Institutionen bis in die neunziger Jahre hinein kontinuierlich sinken. Als die 1990 gewählte National-Regierung den monetaristischen Wirtschaftskurs ihrer beiden Labour-Vorgängerinnen entgegen der öffentlichen Meinung nahezu unverändert fortsetzte, mussten die Wähler den Eindruck gewinnen, dass ihre Stimmabgabe nicht mehr imstande war, etwas zu bewegen. Dies verstärkte die Politikverdrossenheit und das Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber den etablierten Parteien und nicht zuletzt dem Wahlsystem noch zusätzlich.[9]
Schon bei den Parlamentswahlen 1978 und 1981 war eine Schwäche des FPP-Systems zu Tage getreten, die die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen weiter steigen ließ. Beide Male erreichte die National Party die Mehrheit der Sitze, obwohl Labour insgesamt mehr Stimmen erhalten hatte.[10] Dies führte dazu, dass die Labour Party in ihrem Wahlprogramm 1984 eine Reihe von Reformen, sowie die Einsetzung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung des Wahlsystems versprach. Nach dem Wahlsieg von Labour 1984 wurde ein Jahr später die Royal Commission on the Electoral System eingesetzt mit der Aufgabe, das bestehende Wahlsystem zu untersuchen und Vorschläge für dessen Reform zu erarbeiten. Besondere Berücksichtigung sollten dabei die folgenden Punkte erhalten: 1. Wettbewerbsgleichheit zwischen den Parteien, 2. angemessene Repräsentation der Maori, 3. Wechselwirkungen zwischen Wählerbeteiligung, Regierung, Parlament und den politischen Parteien und 4. die allgemeine Legitimität und Akzeptanz des Wahlsystems.[11] Die Ergebnisse des 1986 veröffentlichten Berichtes der Royal Commission waren ebenso überraschend wie radikal: Die Commission schlug die Abkehr von FPP und die Einführung des deutschen personalisierten Verhältniswahlrechtes (im Folgenden MMP = Mixed-member-proportional-system) vor. Außerdem forderte sie eine Vergrößerung des Parlaments von 95 auf mindestens 120 Sitze, sowie die Abschaffung der separaten Maori-Wahlkreise. Das deutsche MMP-System sollte nur mit marginalen Modifikationen übernommen werden. Hierzu gehörten einmal die Aussetzung der Sperrklausel für Parteien, die hauptsächlich Maori-Interessen vertreten (nach dem Vorbild des Südschleswigschen Wählerbundes bei Landtagswahlen in Schleswig-Holstein). Außerdem sollte schon ein erreichtes Direktmandat für den Einzug ins Parlament ausreichen. Zuletzt sollten die Listenmandate über eine nationale Liste vergeben werden, was angesichts des zentralistischen Staatsaufbaus auch zwingend logisch erschien. Weiterhin machte die Kommission Vorschläge zur Ausdehnung der Wahlperiode von drei auf vier Jahre und zur Parteienfinanzierung. Die Entscheidung über die Einführung von MMP sollten die neuseeländischen Wähler in einem Referendum treffen.
Die Kommission begründete ihre Wahl für MMP vor allem mit der besseren Proportionalität der Stimmenverteilung. Die Benachteiligung der kleineren Parteien sollte mit dem neuen Wahlsystem ein Ende haben. Mit der Einführung einer Wahl nach Listen, die von den Parteien aufgestellt werden, erhoffte man sich eine bessere Repräsentation von Minderheiten, sowie der Frauen. Gleichzeitig konnte durch die Direktmandate die Bindung zwischen dem Abgeordneten und den von ihm repräsentierten Wählern beibehalten werden. Weiterhin war es die Absicht der Kommission, durch das Koalitionsregierungen fördernde MMP-System ein mehr konsens- denn konfliktorientiertes politisches Klima zu schaffen.
Der Bericht der Kommission sorgte für kontroverse Diskussionen innerhalb wie außerhalb des politischen Systems. Die kleinen Parteien sowie die Mehrheit der Maori-Bevölkerung befürworteten das neue Wahlsystem, stellte es ihnen doch endlich einen fairen Wettbewerb um die Parlamentssitze in Aussicht. 1986 wurde die Electoral Reform Coalition gegründet, um den Wechsel des Wahlsystems zu unterstützen. Auf heftigen Widerstand stiess der Bericht bei den großen Parteien. Sogar die Mehrheit der Labour-Fraktion, die ein solches Ergebnis offensichtlich nicht erwartet hatte, stellte sich gegen die Vorschläge der Royal Commission. Dies hatte zur Folge, dass ein Referendum zur Wahlsystemfrage im Wahlkampf 1987 keine Rolle spielte und so zunächst in Vergessenheit geriet. Aus diesem Grund wurde die Möglichkeit einer Wahlrechtsreform zu dieser Zeit als eher gering eingeschätzt.[12] Tatsächlich stellte sich der Ausschuß des Parlaments, der den Bericht der Royal Commission beriet, ebenfalls gegen deren Vorschläge und veröffentlichte 1988 einen eigenen Report, in dem das bestehende Wahlsystem verteidigt wurde. Gleichzeitig wurde als Reformvorschlag ein supplementary member system (SM), das am Prinzip der Mehrheitswahl festhielt und bei dem ¼ der Sitze über Listen vergeben werden sollten, angeführt und ein Referendum zwischen diesem und FPP empfohlen. Doch auch dieser Vorschlag wurde von der Regierung nicht aufgenommen, mit der Begründung, es bestehe kein Bedarf für ein solches Referendum.
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[1] z. B. Änderungen der Sperrklausel oder der Berechnungsformel für die Verteilung der Mandate in Deutschland
[2] vergl. Norris 1995, S. 5
[3] Einziger wichtiger Unterschied zum britischen Modell war die Einrichtung von vier getrennten landesweiten Maori-Wahlkreisen, in denen nur Kandidaten antreten durften, die von den neuseeländischen Ureinwohnern abstammten. Dies sollte dieser ethnischen Minderheit eine angemessene Repräsentation im Parlament garantieren. Die Maori konnten entscheiden, ob sie in den Maori- oder den allgemeinen Wahlkreisen ihre Stimme abgeben möchten.
[4] der Einfachheit halber wird im Folgenden das Kürzel FPP verwendet, wenn vom einfachen Mehrheitswahlrecht die Rede ist
[5] Gould 1989, S. 263
[6] vergl. Vowels 1995, S. 98
[7] Vowels 1995, S. 99
[8] vergl. Gould 1987, S. 263 und Levine/Roberts 1994, S. 247
[9] für den gesamten Absatz vergl. Knorr 1997 und Vowels 1995
[10] 1978 betrug der Vorsprung elf, 1981 zwei Sitze
[11] Gould 1987, S. 392
[12] vergl. Lijphart 1987, S. 103 und Boston 1987, S.112