Die vorliegende Seminararbeit knüpft zeitlich an das Ende der römischen Spätantike an und zielt darauf ab, das frühmittelalterliche "germanische" Eherecht zu beleuchten. Ein Einblick in soziokulturelle Strukturen der Germanenzeit soll ermöglicht werden. Darüber hinaus soll aufgezeigt werden, wer mit der oftmals als Sammelbegriff verwendeten Bezeichnung der Germanen gemeint ist und ob es ein gemeinsames, "urgermanisches" (Ehe)Recht gibt.
Vor diesem Hintergrund sollen die Eheschließungsformen und die "germanische" Mentalität insbesondere, aber nicht ausschließlich, nach langobardischem Recht, verankert im Edictus Rothari, untersucht werden. Es soll aufgezeigt werden, welche Rolle den zukünftigen Ehepartnern zukam und welche Konsequenzen die Ehe für das einzelne Individuum, das Ehepaar und deren "Sippen" hatte. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Muntehe sowie die Friedelehe gelegt. Es wird die Bedeutung und der Inhalt der Munt erläutert, anschließend das Regelungswerk der Muntehe umfassend beleuchtet, von Wegen in die Ehe, hin zu etwaigen Wegen aus derselben. Anschließend wird auf zwei weitere etwaige Eheschließungsformen eingegangen, die Kebsehe sowie die Raub-bzw. Entführungsehe.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Einleitung
Fragestellung - Frühmittelalterliches „germanisches“ Eherecht, alles nur (Re-)Konstruktion?
1. Historischer Kontext
a) Die Epoche des Frühmittelalters - Zeitgeschehen
b) Die Germanen und die germanische Sippe
aa) Die Germanen – eine Begriffsbestimmung
bb) Die germanische Sippe im Rechtswesen des Frühmittelalters
2. Germanisches Eherecht - Mentalität - Eheformen
a) Die Muntehe
aa) Etymologie
bb) Bedeutung und Inhalt der Munt bei den Germanen
cc) Die Muntehe unter germanischem Stammesrecht
dd) Das Regelungswerk der Ehe im germanischen Stammesrecht
aaa) Ehehindernisse im germanischen Stammesrecht
bbb) Das Innenverhältnis germanischer Eheleute
ccc) Die Beendigung der Ehe im germanischen Stammesrecht
b) Die Friedelehe
aa) Etymologie
bb) Bedeutung und Inhalt der Friedelehe
cc) Die Friedelehe im germanischen Recht – alles nur Konstrukt?
dd) Die morganatische Ehe - Inspiration zur Friedelehe?
c) Die Kebsehe
aa) Etymologie
bb) Bedeutung und Inhalt der Kebsehe
cc) Die Kebsehe im germanischen Stammesrecht – alles nur Konstrukt?
d) Die Raubehe oder auch die Entführungsehe
aa) Bedeutung und Inhalt der Raubehe und der Entführungsehe
bb) Quellenbeispiel Edictus Rothari, Kapitel
cc) Die Raubehe im germanischen Stammesrecht – alles nur Konstrukt?
Fazit
Literaturverzeichnis
Abstract
Die vorliegende Seminararbeit knüpft zeitlich an das Ende der römischen Spätantike an und zielt darauf ab, das frühmittelalterliche „ germanische “ Eherecht zu beleuchten. Ein Einblick in soziokulturelle Strukturen der Germanenzeit soll ermöglicht werden. Darüber hinaus soll aufgezeigt werden, wer mit der oftmals als Sammelbegriff verwendeten Bezeichnung der Germanen gemeint ist und ob es ein gemeinsames, „urgermanisches“ (Ehe)Recht gibt. Vor diesem Hintergrund sollen die Eheschließungsformen und die „germanische“ Mentalität insbesondere, aber nicht ausschließlich, nach langobardischem Recht, verankert im Edictus Rothari, untersucht werden. Es soll aufgezeigt werden, welche Rolle den zukünftigen Ehepartnern zukam und welche Konsequenzen die Ehe für das einzelne Individuum, das Ehepaar und deren „Sippen“ hatte. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Muntehe sowie die Friedelehe gelegt. Es wird die Bedeutung und der Inhalt der Munt erläutert, anschließend das Regelungswerk der Muntehe umfassend beleuchtet, von Wegen in die Ehe, hin zu etwaigen Wegen aus derselben. Anschließend wird auf zwei weitere etwaige Eheschließungsformen eingegangen, die Kebsehe sowie die Raub-bzw. Entführungsehe. Es wurden zahlreiche unterschiedliche Quellen aus unterschiedlichen Jahrtausenden und Jahrhunderten analysiert und zeitgeschichtlich interpretiert, angefangen bei den römischen Schriften von Tacitus und Caesar über die verschiedenen germanischen Stammesgesetze, insbesondere die langobardischen Gesetze des Edictus Rothari, bis hin zu Brunner und Genzmer, Widerstreiter hinsichtlich der Sippentheorie, über Meyer sowie Esmyol und Ebel, Widerstreiter hinsichtlich der Friedelehe, um einen umfassenden Stand der Forschung und der (Rechts)Geschichte abbilden zu können.
Einleitung
In dem Seminar „ Verliebt, verlobt, verheiratet ?“ werden die Konzeptionen des „Eherechts“ zwischen römischer Spätantike und dem 21. Jahrhundert analysiert. In jeder Seminararbeit soll sowohl der normative Kontext als auch die historische Rechtsrealität der jeweiligen rechtlichen Konzeption der Ehe verdeutlicht werden. Etymologisch betrachtet leitet sich die Ehe von dem althochdeutschen Wort „ ēwa“ ab. Es bedeutet Gesetz oder Heirat. „Heirat“ wiederum leitet sich vom althochdeutschen Wort „ hīrāt“ ab, welches die gemeingermanische Wurzel „ hīwa “ enthält und so viel wie Hausversorgung und zur Hausgemeinschaft gehörig meint1.
Ehen werden auf verschiedene Art und Weise begründet und folgen bestimmten Gesetzen. Die Notwendigkeit solcher (Ehe)Gesetze könnte darin bestehen, dass die Zuordnung der Geschlechtspartner seit Anbeginn unserer Zeit ritualisiert und damit normiert werden musste, um eine naturhafte und damit potenziell gewalttätige Konkurrenz- und Konfliktlage in friedlichen Formen aufzulösen, aber auch die Abstammung der Nachfahren klar zuordnen zu können sowie im Anschluss die Verteilung und Bewahrung von Familiengut im Erbfall sicherzustellen2.
Diese Seminararbeit knüpft zeitlich an das Ende der römischen Spätantike an und zielt darauf ab, das frühmittelalterliche „germanische“ Eherecht zu beleuchten. Es soll seine Charakteristika untersuchen und darüber hinaus einen Einblick in soziokulturelle Strukturen der Germanenzeit ermöglichen. Zu Beginn wird eine Einordnung in den historischen Kontext vorgenommen, anschließend wird aufgezeigt, wer mit dem oftmals als Sammelbezeichnung verwendeten Begriff der Germanen gemeint ist und ob es ein gemeinsames sog. „urgermanisches“ (Ehe)Recht gibt. Im Folgenden werden die einzelnen Ehetypen und ihre Schließungsformen betrachtet, insbesondere, welche Rolle den zukünftigen Ehepartnern zukam und welche Konsequenzen die Ehe für das einzelne Individuum, das Ehepaar und deren „Sippen“ hatte. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Muntehe sowie die Friedelehe gelegt. Im Rahmen der Muntehe wird die Bedeutung und der Inhalt der Munt erläutert, anschließend das Regelungswerk der Muntehe umfassend beleuchtet, von Wegen in die Ehe, hin zu etwaigen Wegen aus derselben. Im Rahmen der Friedelehe wird deren Inhalt und Bedeutung nach Meyer erläutert, sowie anschließend einer kritischen Überprüfung hinsichtlich ihrer Existenz unterzogen. Nachfolgend wird auf zwei weitere Eheschließungsformen eingegangen, die Kebsehe und die Raub-bzw. Entführungsehe. Hierbei soll geklärt werden, ob diese den Status und das Regelungswerk einer Ehe besaßen oder lediglich eheähnliche Institute darstellten. Zum Abschluss soll ein kurzes Fazit die wichtigsten Erkenntnisse dieser Seminararbeit wiedergeben und damit abrunden.
Fragestellung - Frühmittelalterliches „germanisches“ Eherecht, alles nur (Re-)Konstruktion?
Um die Reliabilität und Nachvollziehbarkeit der Arbeit sicherzustellen, ist es zu Beginn erforderlich, die zentralen Begriffe der Arbeit zu definieren, um eine klare Struktur aufzuzeigen. Im Folgenden wird der historische Kontext in Kürze beleuchtet und untersucht, was unter der oftmals als Sammelbegriff verwendeten Bezeichnung der „ Germanen “ zu verstehen ist. Zudem wird der Begriff der „ Sippe “ erläutert, welche Eigenschaften ihr zugesprochen werden, welche Stellung dem Individuum in ihr zukommt und ob der Begriff nach heutigem Forschungsstand noch haltbar ist. Anschließend wird anhand von unterschiedlichem Quellenmaterial dargestellt, welche Eheauffassungen unter einigen germanischen Stämmen vorherrschend waren und welche Ehearten, Inhalte und Gepflogenheiten das frühmittelalterliche, „ germanische “ Eherecht kennzeichnete.
1. Historischer Kontext
a) Die Epoche des Frühmittelalters - Zeitgeschehen
Die Bezeichnung Frühmittelalter ist eine moderne und stellt den ersten der drei großen Abschnitte des Mittelalters von ca. 500 bis 1050, bezogen auf Europa und den Mittelmeerraum, dar3. Dem Frühmittelalter voran geht die Spätantike, ca. 300 bis 600, die bereits eine Transformationszeit darstellte und sich teilweise mit dem beginnenden Frühmittelalter überschneidet.
Der Beginn des Frühmittelalters wird meist mit der sog. Völkerwanderung4 verknüpft, in deren Verlauf das weströmische Kaisertum 476 unterging. Auf dem Boden des ehemaligen weströmischen Reiches entstanden durch die Besiedlung vieler unterschiedlicher germanischer Stämme (siehe Abbildung 1) neue germanisch-romanische Reiche, welche Grundlage für heute noch existierende Staaten bilden.
Im 5. Jahrhundert regierten die Merowinger in dem von ihnen gegründeten Frankenreich; ab dem 8. Jahrhundert unter Karl dem Großen, der im Jahr 800 an das westliche Kaisertum anknüpfte, dann die Karolinger als absolute Hegemonialmacht im Westen. Das Frankenreich umfasste den Kernteil der lateinischen Christenheit vom Norden Spaniens bis in den rechtsrheinischen Raum und nach Mittelitalien hinein5. Die Antike ist endgültig beendet. Im lateinischen Europa wurde während des gesamten Frühmittelalters die von den Päpsten geforderte Christianisierung in den als heidnisch empfundenen Gebieten Europas vorangetrieben, wozu insbesondere auch die Germanenmission gehörte.
Abbildung 1: Die Völkerwanderungen in Europa im 2.-5. Jahrhundert nach Christus6
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
b) Die Germanen und die germanische Sippe
Fraglich ist, ob man diese wandernden Stämme unter den Sammelbegriff der Germanen fassen kann. Im Folgenden wird daher beleuchtet, was unter der oftmals als Sammelbegriff verwendeten Bezeichnung der „ Germanen “ zu verstehen ist. Zudem wird der Begriff der „ Sippe “ erläutert, welche Eigenschaften ihr zugesprochen werden und welche Stellung dem Individuum innerhalb der „ Sippe “ zukommt.
aa) Die Germanen – eine Begriffsbestimmung
Die Bezeichnung der Germanen ist nicht nur im alltäglichen Sprachgebrauch oftmals die eines Sammelbegriffs. Da es an einer eigenen germanischen schriftlichen7 Überlieferung für die frühe Zeit fehlt, ist fraglich, ob es einen solchen gemeingermanischen Sammelbegriff gab und nach moderner Forschung noch geben kann.
Ein auch heute viel verwendeter Germanenbegriff basiert auf der Sprache. So werden als Germanen die Gesamtheit jener Völker bezeichnet, die germanische Sprachen verwendeten. Dies ist jedoch skeptisch zu betrachten, fragt man sich allein, ob spanische Goten des 7. Jahrhunderts oder süditalienische Langobarden des 9. Jahrhunderts, die wohl romanische Sprachen gebrauchten, noch Germanen waren8. Auch Isidor von Sevilla, der Lehrmeister Spaniens, welcher um 623 die Etymologiae veröffentlichte und in dieser versuchte, das gesamte weltliche und geistliche Wissen seiner Zeit zu vereinen, wusste nichts von einer gemeingermanischen Sprache, er meinte, unter den „ Germanicae gentes" habe es „ plurimae gentes variae armis, discolores habitu, linguis dissonae, et origine vocabulorum incertae" gegeben9. Dass alle Germanen eine gemeinsame Sprache sprachen, lässt sich auch anhand von sprachwissenschaftlichen Befunden nicht bestätigen. Vielmehr ist anzunehmen, dass bei aller sprachlicher Fortentwicklung und Eigenart der jeweiligen Stämme lediglich ein sprachliches Kontinuum erhalten wurde, welches lediglich die gegenseitige Verstehbarkeit gewährleistete10. Die verschiedenen germanischen Stämme sind damit nicht als einheitlich lebende und auftretende Gruppe mit einer gemeingermanischen Sprache zu sehen.
Ein weiterer Germanenbegriff wurde aufgrund der ethnographischen Berichte von Caesar11 und von Tacitus12 territorial bestimmt. Die Römer orientierten sich im „ Barbarenland “ an sog. „ gentes “, also an Stämmen oder Völkern, die in ethnografische Großgruppen eingegliedert wurden, vor allem in die Germanen und die Skythen13.
Caesar14 prägt den territorial bestimmten Germanenbegriff, indem er den Rhein zur Kulturscheide zwischen Galliern am Westufer und Germanen am Ostufer erklärt und alles Land östlich als Germanien bezeichnet. Auch dieser römische, territorial bestimmte Germanenbegriff ist skeptisch zu betrachten. Zum einen ist zweifelhaft, ob diese Darstellungen, auf die sich die frühere Rechtsgeschichte hauptsächlich stützte, zuverlässig sind. So ist bereits fraglich, ob Tacitus die germanischen Gebiete jemals bereist hat15. Jedenfalls schrieb er die Germania aus dem subjektiven Blickwinkel eines römischen Aristokraten und manche Züge seiner Schilderungen dienen wohl dazu, seinen römischen Landsleuten einen Spiegel vorzuhalten und deren Entartungserscheinungen zu geiseln, indem er „die“ germanische Lebensweise als erstrebenswert sittsam darstellte16. Nach heutigem Stand der Forschung kann der territorial bestimmte Germanenbegriff nur ein Sammelname der Außensicht und damit eine Fremdbenennung sein17. Es gibt keine eigene germanische Überlieferung, nach der ein gesamtgermanisches Volksbewusstsein vorhanden war, nach dem sich Stämme oder andere Gruppen, z.B. kultisch-religiöse Verbände, selbst insgesamt als Germanen betrachtet haben.
Der moderne Germanenbegriff als Versuch einer, untechnisch gesprochen, Kategorisierung zum besseren Verständnis, muss daher zwangsnotwendigerweise weitaus offener und sich seiner Unvollkommenheit bewusst sein. Wohl wissend, dass es keine gemeingermanische Sammel- und Selbstbezeichnung eben jeder verschieden assimilierten Stämme18 gab, können als Germanen zwar nicht ausschließlich, aber ansatzweise diejenigen Bevölkerungsgruppen bezeichnet werden, die in den Jahrhunderten um Christus Geburt in Mitteleuropa zwischen Rhein und Weichsel sowie in Skandinavien gesiedelt haben und für welche sprachliche Ähnlichkeiten mit anderen Stammessprachen anderer „germanischer“ Stämme überliefert sind19.
In Abbildung 2 eine Darstellung der germanischen Siedlungsgebiete und Stämme aus Kinder/Hilgemann20, die lediglich ansatzweise dazu dienen kann, die verschiedenen „germanischen“ Stammesvölker zu benennen und Ähnlichkeiten aufzuweisen, mit dem bewussten Ziel einer unvollkommenen, aber verständniserleichternden Kategorisierung.
Abbildung 2: Germanische Expansion nach Kinder/Hilgemann
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
GMN: Nordseegermanen, bei Tacitus wohl Ingaevones21, dazu gehören wohl Angeln, Chauken (die im Großstamm der Sachsen aufgehen), Friesen und Warnen.
GRW: Rhein-Weser-Germanen, bei Tacitus wohl Istaevones 22, dazu gehören wohl Angrivarier, Chamaven, Cherusker, Tenkterer, Usipeter. Aus den am Rhein ansässigen Stämmen geht im 3. Jahrhundert der Großstamm der Franken hervor.
GElb: Elbgermanen, bei Tacitus wohl Hermiones 23 , dazu gehören wohl Hermunduren, Langobarden, Markomannen, Semnonen, Sueben. Aus ihnen ging im 3. Jahrhundert der Großstamm der Alamannen hervor.
GOr: Ostgermanen. Dazu gehören wohl Burgunden, Lugier und Vandalen.
GNor: Nordgermanen bzw. Ostseegermanen, die auf der jütischen Halbinsel und in Skandinavien siedeln. Tacitus nennt einen Stamm der Suionen.
bb) Die germanische Sippe im Rechtswesen des Frühmittelalters
In mehreren germanischen Sprachen existiert der Begriff der Sippe, so im altfriesischen als „ sibbe “ oder im gotischen als „ sibja “. Er bedeutet Freund bzw. Genosse und bezeichnet die Zugehörigkeit durch Abstammung und Verwandtschaft24.
Der Sippenbegriff fand in der rechtshistorischen Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor allem in den Arbeiten Heinrich Brunners25 die entscheidende Ausformung. Die feste Sippe umfasste alle von einem gemeinsamen Stammesvater gezeugten Nachkommen nach dem Prinzip der Agnation26. Diese feste Sippe wurde für Sippenstrafrecht, Sippengerichtsbarkeit, Munt und als Wehrgemeinschaft genutzt. Nicht fester, aber ebenfalls Bestandteil der Sippe sind alle Blutsverwandten in weiblicher Linie als sog. wechselnde Sippe27. Die angenommene Zugehörigkeit zur Verwandtschaft endete logischerweise an einer Grenze, an der eine Blutsverwandtschaft nicht mehr festgestellt werden konnte28. Die Sippe wurde als konstituierender Bestandteil der germanischen Gesellschaft aufgefasst. Der Einzelne hatte in der Sippe wenig Bedeutung, nahm nur als Sippenmitglied am Wirtschafts- und Rechtsleben teil; er konnte sich nicht auf subjektiv-individuelle Rechte berufen29. Brunner findet hierfür präzise Worte, indem er sagt, dass „die Bedeutung der Blutsverwandtschaft […] so tief in das Volks- und Rechtsleben ein[griff], dass der verwandtenlose Mann sich tatsächlich wenig vom rechtlosen unterschieden haben mag“30.
Die Sippe mit ihrer Funktion als Friedensgemeinschaft31 sicherte dem Einzelnen Schutz und Verteidigung bei Angriffen. Die Verletzung eines Sippenmitgliedes bedeutete zugleich die Verletzung der Sippenehre32. Dies führte zu Fehde und Blutrache. Die Friedensverhandlungen und Sühneabkommen führte nicht das einzelne Mitglied, sondern die Sippe in ihrer Gesamtheit. Ein weiterer Wirkbereich der Sippe wird in einem festen erbrechtlichen System gesehen. Es sollte den Erhalt des Sippengutes sicherstellen sowie bei Eheschließungen und Verlobungen einzelner Sippenmitglieder ein maßgebliches Mitbestimmungsrecht beinhalten. Die Sippe bildete zudem eine feste Heereseinheit und hatte damit auch militärische Bedeutung33.
In der Germania34 ist zu lesen: „c. 8. Besonders spornt sie zur Tapferkeit an, dass nicht Zufall und willkürliche Zusammenrottung, sondern Sippen […] die Reiterhaufen oder die Schlachtkeile bilden.“
Die Brunner‘sche Sippentheorie war und ist jedoch nicht unumstritten. Erfreute sie sich durch den positivistischen, ihr innewohnenden systemkohärenten Führerbegriff zeitgemäß großer Beliebtheit, so erfährt sie durch die in der Mitte des 19.Jahrhunderts von Genzmer und Kroeschell35 geäußerte Kritik eine weitreichenden Neubewertung. Genzmer veröffentlicht 1950 seinen Aufsatz „ Die germanische Sippe als Rechtsgebilde. Er untersucht die einzelnen Bereiche, in denen die Sippe eine Rolle gespielt haben soll, und entkräftet diese. Der Ausdruck „ Sippe “ habe seiner Ansicht nach mehrere Bedeutungen, unter anderem „ Friede “ und „ Verwandtschaft aller Art “, keine davon bezeichne aber einen Personenverband36. Bezüglich der Sippe als Heereseinheit rechnet er vor, dass eine normale Sippe nicht genügend männliche Angehörige gezählt haben könne, um eine militärische Einheit zu stellen37 Der Bedeutung der Sippe im Recht bei Rache und Fehde widerlegt er anhand isländischer Texte38. Er kommt zu dem Schluss, dass man den Ausdruck „ Sippe “ durchaus für einen „ unscharf begrenzten und wechselnden Verwandtenkreis “ verwenden dürfe. „ Die Sippe als Rechtsbegriff, insbesondere als rechtlich gestalteter Verband, ist [jedoch] vielmehr eine Erfindung der Professoren des 19. Jahrhunderts.“39.
Der traditionelle Sippenbegriff gilt damit rechtsgeschichtlich als überwunden. Im Folgenden wird der Begriff der Verwandtschaft oder Familie verwendet.
2. Germanisches Eherecht - Mentalität - Eheformen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Hochzeit bei den Germanen, Jean-Pierre Saint-Ours, 1787 40 ,
Den Beginn einer jeden Ehe stellt die Eheschließung dar. Im Folgenden werden die Formen der Eheschließung und das Eheverständnis im germanischen Recht beleuchtet. Bei allen Versuchen einen homogenen germanischen Kulturkreis mit einheitlichen Familien- und Ehestrukturen abzubilden, ist jederzeit Vorsicht und Zurückhaltung geboten. Wie bereits erläutert gibt es eben kein gesamtgermanisches Recht. Diese Seminararbeit versucht, einzelne Auszüge einiger Stammesgesetze zu analysieren und stellt, soweit möglich, Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Stammesrechte dar. Als Quellengrundlage dieser Seminararbeit diente v.a. das langobardische Stammesrecht, kodifiziert in dem sog. Edictus Rothari als erste Kodifikation der mündlich überlieferten ältesten langobardischen Stammesrechte, welche 643 n.Chr. unter König Rothar aufgezeichnet wurden. Sie gilt als eine der umfangreichsten und bedeutendsten Leistungen germanischer Rechtsprechung41 und beinhaltet zahlreiche dem gemeingermanischen Rechtsdenken entsprechenden Regelungen42.
Festzuhalten gilt es, dass die Eheschließung zunächst ein rein weltlicher, privater Akt war, der in der Hand der einzelnen Familien lag43. Kirchlicher Einfluss und die damit einhergehende Bemühung zur Kontrolle, wie durch das 1140 verfasste Decretum Gratiani mit umfassendem Abschnitt zum Eherecht und die 1234 verfassten Dekretalen Gregors IX (auch Liber Extra genannt), werden erst im Eherecht des späteren Mittelalters bedeutsam44. Rechtshistorisch existierte in den germanischen Stammesrechten wohl nicht lediglich eine einzige Eheform45. Muntehe, Friedelehe, Kebsehe und Raub - bzw. Entführungsehe gilt es im Folgenden zu erläutern.
a) Die Muntehe
aa) Etymologie
Das alt- und mittelhochdeutsche Wort „ munt “ leitet sich von dem urgermanischen Wort „ mundō “ ab und bedeutet Schutz, Schirm oder Herrschaft46. Ein etymologischer Zusammenhang mit dem neuhochdeutschen Wort Mund (als Köperorgan), wonach der Vormund derjenige sei, der für das Mündel spreche, besteht nicht. Es besteht vielmehr mit Grimm47 und Heusler48 der Zusammenhang mit den lateinischen Wörtern „ manus “ für Hand und „ mandare “für anvertrauen.
bb) Bedeutung und Inhalt der Munt bei den Germanen
Die wichtigste Vorschrift zur Munt findet sich im Kapitel 20449 des Edictus Rothari- Frauen sind niemals mündig -, demnach soll: „kein freies Weib, das innerhalb der Herrschaft Unseres Königtums nach Langobardenrechte lebt, […] selbmündig nach ihrem freien Gutfinden leben. Vielmehr muss sie stets unter Männermunt (oder in der des Königs) bleiben.“
Das Edictus Rothari zeigt, dass die Munt ihrem Wesen nach die volle personenrechtliche Herrschaftsgewalt über die gesamte Hausgemeinschaft bezeichnet, insbesondere die Ehefrau, aber auch die Kinder sowie ledige und verwitwete Schwestern50. Die Frau kommt durch die Heirat unter die ehemännliche Munt; dem Ehemann kommt mit der Übertragung der frauenrechtlichen Munt die gesetzliche Aufgabe zu, diese zu schützen und zu schonen. Der Muntherr hat den Muntunterworfenen nach außen zu vertreten, seine Prozesse zu führen und für seine Delikte zu haften. Auch das Vermögen steht unter der Gewalt des Hausherrn, der es nutzt und verwaltet; verfügen über das Gut seiner Gewaltunterworfenen kann er jedoch nur mit deren Zustimmung51.
cc) Die Muntehe unter germanischem Stammesrecht
Die Muntehe bildete die in ihren rechtlichen Wirkungen vollkommenste und damit die am häufigsten anzutreffende Form der Ehe. Sie war monogam, und vollzog sich in zwei Schritten: die Verlobung, die desponsatio und die anschließende Trauung, die traditio puellae 52.
Der Ehegrund nach germanischem Eheverständnis liegt nicht etwa in der Liebe oder der persönlichen Glücksentfaltung der potenziellen Eheleuten, sondern vornehmlich in der Zeugung von Nachkommen und damit dem Erhalt und der Vergrößerung der eigenen Familien53. Über eine Eheschließung berieten daher die Familien beider Ehekandidaten und hielten die desponsatio durch einen gemeinsamen Vertrag fest54.
Die Stellung der Ehepartner kennzeichnete sich durch die oben beschriebene Munt als Wechselspiel zwischen patriarchalischer Herrschaftsgewalt und personenrechtlichem Schutzauftrag55. Die Rolle der Familien bestand in ihrer Zustimmung und Unterstützung der Werbung ihrer zu verheiratenden Nachkommen. Die Rolle der Frau bestand gerade nicht darin, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Sie blieb vielmehr bloßes „Objekt“ des Vertrages56. Auf ihre Zustimmung kam es nicht an und eine etwaige Möglichkeit zur Ablehnung der Eheschließung bestand nicht, denn nicht sie persönlich, sondern die Vormundschaft über sie war Gegenstand des Vertrages57.
Wie im Kapitel 183 des Edictus Rothari vermerkt, wirkte die desponsatio jedoch nicht ehebegründend: „Denn (nachdrücklich) erklären Wir: Ohne die Übergabe gibt es keinerlei Rechtsbeständigkeit der Sache.“58
Vielmehr begründete die desponsatio ein Recht auf die Braut mit gleichzeitiger Verpflichtung des Mannes zur Eheschließung59. Der Muntanwalt der Frau, zumeist der Vater, verpflichtete sich dem zukünftigen Gatten beziehungsweise dessen Familie gegenüber dazu, ihm seine Tochter zu übergeben und dem Gatten die Muntgewalt über seine zukünftige Braut nach (An)Zahlung des Muntschatzes zu übertragen60.
[...]
1 Kluge/Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S.166,300,584.; Schott, Trauung und Jawort, S.11ff; ders., Ehe – germanisches und deutsches Recht, LexMA III, Sp.1629f.; Kottje, Eherechtliche Bestimmungen der germanischen Volksrechte, S.212.
2 Affeldt, Frauen und Geschlechterbeziehungen im Frühmittelalter, Mediaevistik 10 1997, S.82.
3 Schaller, Mittelalter. Die Welt der Kaiser, Edelleute und Bauern, S.6ff.
4 Die umfassendste Darstellung auf Grundlage der aktuellen Forschung bieten Meier, Geschichte der Völkerwanderung sowie Pohl, Die Völkerwanderung: Eroberung und Integration.
5 Gmür/Roth, Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte, S.21ff, 30 Rn.51.
6 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Karte_v%C3%B6lkerwanderung.jpg, am 14.07.2020.
7 Die frühen Germanen besaßen, abgesehen von rudimentären Runen, kein eigenes Schriftsystem. Sie waren nicht alphabetisiert, vgl.: Goody, Ehe und Familie in Europa, S.16,71.
8 Pohl, Der Germanenbegriff 3. - 8. Jh., S.164.
9 Isidor, Die Enzyklopädie, Buch IX, S.323ff.; Pohl, Der Germanenbegriff 3. - 8. Jh., S.167.
10 Seebold, Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, S.289.
11 Caesar, De bello Gallico, Lib. VI, 21-28.
12 Tacitus, Germania, c.1-5.
13 Pohl, Die Völkerwanderung, S.20ff.
14 Caesar, De bello Gallico, Lib. VI, 21-28.
15 Gmür/Roth, Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte, S.17 Rn.26.
16 Meyer, Ehe und Eheauffassung der Germanen, S.1,4; Goody, Ehe und Familie in Europa, S.50.
17 Pohl, Der Germanenbegriff 3. - 8. Jh., S.163-183; Steuer, HRG Germanen, Band II, Sp.225-230.
18 Vgl. Grönbech, Kultur und Religion der Germanen Band 1, S.389: „Es ist absolut kein Grund, anzunehmen, daß die Norweger und die Dänen, die Langobarden und die Angelsachsen jemals genau dieselben sozialen und gesetzlichen Sitten hatten.“.
19 Steuer, HRG Germanen, Band II, Sp.225-230; Pohl, Die Völkerwanderung, S.21.
20 Kinder/Hilgemann: Atlas zur Weltgeschichte, Davius: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11454953, am 14.07.2020.
21 Tacitus, Germania, c.2.2,3.
22 Ebenda.
23 Ebenda.
24 Kluge/Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S.765; Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch, S.118.
25 Brunner, Sippe und Wergeld nach niederdeutschen Rechten, S.1-87; ders., Deutsche Rechtsgeschichte Band I.
26 Planitz, Grundzüge des Deutschen Privatrechts, Familienrecht § 80, S.177.; Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte Band I, S.111.
27 Haase, Sozialer Wandel und Entstehung eines Strafrechts, S.43.
28 Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte Band I, S.114-117.
29 Goody, Die Geschichte der Familie, S.72.
30 Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte Band I, S.110ff.
31 Köstler, Raub-, Kauf- und Friedelehe bei den Germanen, S.102.
32 Vgl.: Haase, Sozialer Wandel und Entstehung eines Strafrechts, S.43f.
33 Planitz, Grundzüge des Deutschen Privatrechts, Familienrecht § 80, S.177; Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte Band I, S.118f.
34 Tacitus, Germania, c.8. „Quodque praecipuum fortitudinis incamentum est, non casus nec fortuita conglobatio turmam aut cuneum facit, sed familiae et propinquitates; [...]“.
35 Genzmer, Die germanische Sippe als Rechtsgebilde, S. 34-49; Kroeschell, Die Sippe im germanischen Recht, S. 1-25.
36 Genzmer, Die germanische Sippe als Rechtsgebilde, S.35.
37 Ebenda, S.35,38.
38 Ebenda, S.41-43.
39 Ebenda, S.49.
40 Bayerische Staatsgemäldesammlungen - Neue Pinakothek München, https://www.sammlung.pinakothek.de/de/bookmark/artwork/M0xy06B54p, am 14.07.2020.
41 Vismara, Artikel zum Edictus Rothari, LexMA III, Sp.1574f.
42 Vismara, Artikel zum Langobardischen Recht, LexMA V, Sp.1701.
43 Amira, Grundriss des germanischen Rechts, S.181; Goetz, Leben im Mittelalter, S.43.; Saar, Ehe - Scheidung - Wiederheirat, S.104; Köstler, Raub-, Kauf- und Friedelehe bei den Germanen, S.102.
44 Schott, Trauung und Jawort, S.17.
45 Schott, Ehe – germanisches und deutsches Recht, LexMA III, Sp.1629f.
46 Ogris/Olechowski, HRG Munt, Band III, Sp.1683-1689.
47 Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, S.617–622.
48 Heusler, Institutionen des deutschen Privatrechts Band I, S.93–144.
49 Bluhme, Leges Langobardorum, MGH LL IV, Cap.204; Übersetzung von Beyerle, Die Gesetze der Langobarden, Cap.204, S.81.
50 Ogris/Olechowski, HRG Munt, Band III, Sp.1683-1689. Nicht jedoch im Sinne eines sachenrechtlichen Herrschaftsbegriffs, vgl.: Ogris, HRG Gewere, Band II, Sp.347-352.
51 Planitz, Grundzüge des Deutschen Privatrechts, Familienrecht § 80, S.178; Goetz, Frauen im frühen Mittelalter, S.201f.
52 Mikat, Dotierte Ehe-rechte Ehe, S.62f.,65; Ogris/Olechowski, HRG Munt, Band III, Sp.1683-1689; Buchholz, HRG Ehe, Band I, Sp.1192-1213.
53 Köstler, Raub-, Kauf- und Friedelehe bei den Germanen, S.107; Saar, Ehe - Scheidung - Wiederheirat, S.107ff.; Schröder/Künßberg, Lehrbuch Deutsche Rechtsgeschichte, S.330.
54 Vgl.: Beyerle, Die Gesetze der Langobarden, Cap.178, S.63f., Schott, Trauung und Jawort, S.19f.; Köstler, Raub-, Kauf- und Friedelehe bei den Germanen, S.102-107.
55 Goetz, Frauen im frühen Mittelalter, S.201f.
56 Schott, Trauung und Jawort, S.20; Saar, Ehe - Scheidung - Wiederheirat, S.104f.
57 Boor, Höfische Literatur, S.9: der Frau „ komme nur die Rolle des ruhenden Objekts (zu), um das sich die Handlung entfaltet “; Köstler, Raub-, Kauf- und Friedelehe bei den Germanen, S.97.
58 Beyerle, Die Gesetze der Langobarden, Cap.183: „Nam aliter sine traditione nulla rerum dicimus subsistere firmiratem.“, S.69; Mikat, Dotierte Ehe-rechte Ehe, S.38.
59 Saar, Ehe - Scheidung - Wiederheirat, S.103.
60 Goetz, Leben im Mittelalter, S.41; Ficker, Untersuchungen III, S.399.