Inhalt
EINLEITUNG
1 RAUM IM KONTEXT DER SOZIALISATIONSTHEORIE
1.1 DAS KIND ALS SUBJEKT SEINER SOZIALISATION
1.2 ZUR BEDEUTUNG DES RAUMES FÜR DIE SOZIALISATION
2 RAUMERFAHRUNG DER MODERNEN KINDHEIT
2.1 SOZIALISATION AUF DER „STRAßE“
2.2 VERHÄUSLICHUNG
2.3 VERINSELUNG
2.4 INSTITUTIONALISIERUNG
3 ZUSAMMENFASSUNG
BIBLIOGRAFIE
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Watterson 1995)
Einleitung
Jana ist fünf Jahre alt. Sie wohnt in einer Marktgemeinde, die an das unterfränkische Würzburg grenzt. Hier lebt sie mit ihren Eltern und ihrer drei Jahre jüngeren Schwester Leonie in einem verkehrsberuhigten Wohngebiet mit überwiegend Einfamilienhäusern. Die Großeltern wohnen im gleichen Haus und Jana und ihrer Schwester steht ein großer Garten zur Verfügung. In der Nachbarschaft gibt es nur ein Mädchen in ihrem Alter; dafür kann sie zum Kindergarten laufen.
An einem ganz normalen Wochentag steht Jana zwischen sieben und acht Uhr auf und geht nach dem gemeinsamen Frühstück mit der Familie gegen neun Uhr in den Kindergarten. Dort bleibt sie bis zwölf, dann holt ihre Mutter sie zum Mittagessen ab. Sie spielt ein bisschen mit ihrer Schwester und oft kommen Kinder zu Besuch, die sie aus dem Kindergarten kennt, aus befreundeten Familien oder das Mädchen aus der Nachbarschaft. Häufig besucht Jana mit Leonie und ihrer Mutter andere Familien und spielt dort mit den Kindern. Montag- und Freitagnachmittag allerdings ist Jana unterwegs: Sie besucht die musikalische Früherziehung in der Musikschule und das Kinderturnen. Nach dem Abendessen wird noch ein bisschen gespielt und gegen acht Uhr geht Jana schlafen.1
Dieser kleine Einblick in Janas Alltag soll exemplarisch für eine moderne Kindheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts am Eingang meiner Arbeit stehen. Es soll aufgezeigt werden, wie sich die kindliche Sozialisation verändert hat und wo sie heute stattfindet. Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Aneignung des Raumes durch Kinder allgemein, sowie auf den Vor- und Nachteilen der Bedingungen unter denen kindliche Raumaneignung stattfindet. Doch zuvor möchte ich einige sozialisationstheoretische Prämissen benennen.
1 Raum im Kontext der Sozialisationstheorie
1.1 Das Kind als Subjekt seiner Sozialiation
Wird Sozialisation verstanden als „Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ (Geulen/Hurrelmann 1980, S.51 zit. n. Nissen 1998, S.20), so ist zu fragen, ob das Kind hierbei passiv den Umweltbedingungen ausgeliefert ist und ihm der gesellschaftlichen Stempel eingeprägt wird, oder ob es aktiv seinen eigenen Sozialisationsprozess mitbestimmt. Nach Nissen (1998, S.22) sehen aktuelle Sozialisationstheoretiker wie Geulen, Hurrelmann, Tillmann, Mürmann und Wissinger den „Menschen als sich entwickelndes, autonomes Subjekt (...), das seiner selbst mächtig und in schöpferisch-tätiger Auseinandersetzung mit der Welt Ausgangspunkt von Aktivität und Geschichte ist.“
Auch bei Tillmann (1989, S.10; zit. n. Nissen 1998, S.21) ist Sozialisation „nicht einfach die (freiwillige oder erzwungene) Übernahme gesellschaftlicher Erwartungen in psychische Strukturen, sondern ein Prozess der aktiven Aneignung von Umweltbedingungen durch den Menschen.“ Wohingegen postmoderne oder poststrukturalistische Theorien vom Tod des Subjekts sprechen und in funktionalistischen Ansätzen Sozialisation nur einen Prozess der Anpassung an das vorgegebene Werte-und-Normen-System und die Integration in eine nicht weiter hinterfragte Gesellschaft darstellt (vgl. Nissen 1998, S.22).
Im Gegensatz zur frühen Sozialisationsforschung, die „den ‚subjektiven‘ Faktor aus ihren Analysen ausklammert oder nur als Randvariable betrachtet“ (Hurrelmann 1993 S. 64), spricht Hurrelmann vom „‘Modell der produktiven Realitätsverarbeitung‘
(...). Das Modell drückt den gemeinsamen Nenner der neueren Sozialisationstheorien aus, nämlich die Vorstellung vom Individuum, das sich einerseits suchend und sondierend, andererseits konstruktiv eingreifend und gestaltend mit der Umwelt beschäftigt, Umweltgegebenheiten aufnimmt und mit den vorhandenen Vorstellungen und Kräften in Einklang bringt und um eine ständige Abstimmung zwischen den Umweltanforderungen und den eigenen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten bemüht ist.“
Das Kind wird gleichzeitig durch die Umwelt, die es vorfindet auf ganz individuelle Weise geprägt und prägt diese wiederum selbst mit. In Hurrelmanns Theorie werden also “gesellschaftliche Institutionalisierungsprozesse auf der einen und intrapsychische Prozesse auf der anderen Seite aufeinander bezogen und miteinander verbunden“ (Nissen 1998, S.30).
Berger und Luckmann kommen in ihrer Theorie der gesellschaftlicehn Konstruktion der Wirklichkeit zu ähnlichen Aussagen.
„Da Gesellschaft objektiv und subjektiv Wirklichkeit ist, muß ihr theoretisches Verständnis beide Aspekte umfassen. Beiden Aspekten wird (...) erst eigentlich gerecht, wer Gesellschaft als ständigen dialektischen Prozess sieht, der aus drei Komponenten besteht: Externalisierung, Objektivation und Internalisierung. Als gesamtgesellschaftliches Phänomen sind die drei Komponenten nicht etwa im Sinne einer Aufeinanderfolge der Zeit vorzustellen. Sie sind vielmehr simultan für die Gesellschaft und alle ihre Teile charakteristisch, so daß jede Analyse, die nur ein oder zwei ins Auge faßte, nicht ausreichte. Dasselbe gilt für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft, das simultan sein eigenes Sein in die Gesellschaft hineinexternalisiert, das heißt also, sich seiner entäußert und die Gesellschaft wiederum umgekehrt internalisiert, das heißt sich ihre objektive Wirklichkeit ‚einverleibt‘. In der Gesellschaft sein, heißt mit anderen Worten, an ihrer Dialektik teilhaben“ (Berger/Luckmann 1980, S.139).
1.2 Zur Bedeutung des Raumes für die Sozialisation
Wenn also ein Kind sich seine Umwelt in Interaktion mit ihr aneignet, findet dies jeweils in einer bestimmten Raum-Zeit-Struktur statt. Wenn im folgenden von „Raum“ gesprochen wird, so beziehe ich mich auf physikalischen und sozialen Raum. Der Raum spielt hierbei m.E. eine doppelte „Rolle“. Zum einen ist er der Rahmen in dem solche Interaktionen mit der Umwelt stattfinden (physikalischer Raum) und zum anderen selbst Gegenstand in der Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt (sozialer Raum). Als Objekt sowie auch als Rahmen ist er wie die gesamte Umwelt von der Gesellschaft geprägt. So beschreibt Tillmann (1989, S.10; zit. n. Nissen, 1998):“(...) die materielle Umwelt befindet sich nirgendwo mehr in einem natürlichen Urzustand, sondern kommt immer nur in gesellschaftlicher Bearbeitung vor: Spielzeug wurde von Fabrikanten erdacht und produziert, Wohnumwelten unter ökonomischen Gesichtspunkten geplant, selbst der Stadtpark und seine Anlagen sind das Ergebnis gesellschaftlicher Gestaltung.“
Welche Raumerfahrungen ein Kind macht, hängt also damit zusammen, welche Räume ihm unter welchen Bedingungen zur Verfügung stehen und wie diese beschaffen sind. Wie groß ist beispielsweise der Wohnraum, in dem das Kind lebt, mit wem teilt es diesen Raum, welche Möglichkeiten bieten sich dem Kind dort? Befindet sich diese Wohnung in der Stadt oder auf dem Land, gibt es Spielplätze, einen Wald? Wie weit sind Kindergarten oder Schule von Wohnort entfernt, kann es dorthin laufen, muss es gefahren werden oder Bus fahren?
Diese exemplarischen Fragestellungen machen deutlich, wie sehr räumliche Verhältnisse die Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten eines Kindes beeinflussen, denn die Beschaffenheit der physikalischen und sozialen Räume bestimmt auch das mögliche Zusammentreffen mit anderen Kindern und Erwachsenen. „Räume (...) sind unabdingbare Voraussetzungen für die Begegnung von Individuen, d.h. für soziales Handeln und für die Entwicklung sozialer Identität: Ihr Vorhandensein oder Fehlen ist z. B. entscheidend für den Aufbau von Beziehungen“ (Nissen 1998, S.155).
2 Raumerfahrung der modernen Kindheit
2.1 Sozialisation auf der„Straße“
Dem öffentlichen Raum kommt in der Aneignung der Umwelt durch das Kind eine besondere Bedeutung zu, denn hier trifft das Kind auf gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse. Nissen (1998, S.153) zitiert hierzu Jurczyk (1994, S.206): „Gesellschaftlich relevante Macht im Sinne von Gestaltung- und Entscheidungsmacht kann nur im öffentlichen Bereich ausgeübt werden; Macht im Privatbereich beschränkt sich auf die hierarchisch strukturierten Interaktion zwischen vereinzelten Individuen, die nur mittelbaren Einfluß auf die Gestalt des öffentlichen Lebens hat.“ Mit dem öffentlichen Raum betritt das Kind also sozusagen auch „politisches Terrain“. Es lernt gesellschaftlich legitimierte Hierarchie kennen, wie beispielsweise zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Männern und Frauen. Ebenso werden bestimmte Erwartungen durch Räume, die von Erwachsenen konzipiert wurden an sie gestellt.
Die Aneignung des öffentlichen Raumes „Straße“ geschieht auf unterschiedlichste Art und Weise. Sie ist einerseits natürlich individuell verschieden, wenn wir davon ausgehen, dass das Kind Subjekt seiner eigenen Sozialisation ist und mit der Umwelt in Interaktion tritt (s.o.). Andererseits unterscheiden sich „je nach soziokultureller, gesellschaftlicher Situation (die bestimmt ist durch Faktoren wie Schichtzugehörigkeit, Alter und Geschlecht) (...) die Individuen hinsichtlich ihres Raumnutzungs-, Raumbesetzungs-, und Raumerschließungsverhalten, sowie der Bewertung von Räumen.“ Nissen (1998, S.153) bezieht sich hier auf Dannenbeck. Nissen misst also dem sozialen Umfeld (Milieu), in dem ein Kind aufwächst, eine sehr große Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung. So verändern gesellschaftliche Faktoren die eigene psychische Interaktion mit der Umwelt und die Rezeption der Umwelt des Kindes. Hier ist die Zirkularität des „Modells der produktiven Realitätsverarbeitung“ wiederzufinden: Das gesellschaftliche Umfeld bestimmt im wesentlichen die Qualität des öffentlichen Raumes inklusive der Erwartungen, die damit an das Kind herangetragen werden. Es nimmt wahr, verarbeitet und reagiert wiederum gestalterisch auf diese Raumerfahrungen. Konsequent weitergedacht, kann man öffentlichen Raum m.E. also als politisches Medium betrachten bzw. als Anzeiger für Normen, Werte und Prioritäten, die sich die Gesellschaft setzt, Machtverhältnisse und soziale Ungleichheit. Nissen (1998, S.157) zitiert hier Marie- José Chombart de Lauwe (1977, S.26):
„Das Kind sozialisiert sich in städtischer Umgebung wesentlich auf zwei Arten: Einerseits verinnerlicht es Vorstellungs- und Wertsysteme, gewinnt je nach Sozialisationswelt Identität nach verschiedenen Modellen. Mit zunehmendem Alter gewinnen die außerfamiliären Modelle der Identitätsgewinnung eine wachsende Bedeutung, und die ‚Lektüre‘ der Gesellschaft, wie sie durch die Umgebung angeboten wird, kann sich als eine Quelle der Bereicherung erweisen, oder - ganz im Gegenteil - als eine Einschränkung der Möglichkeit, seine Horizonte auszuweiten und zur Gesellschaft hin sich zu öffnen.“
Den Begriff „Straßensozialisation“ prägte Jürgen Zinnecker 1979 in dem Aufsatz „Straßensozialisation - Versuch einen unterschätzten Lernort zu thematisieren“. „Straße“ ist für ihn mehr als nur der Verkehrsweg, er subsummiert unter dem Begriff verkehrsfreie Plätze, Parks, Warenhäuse, Straßenkneipen, also nicht nur Orte unter freiem Himmel, sondern auch angrenzende öffentliche Räume und Gebäude. „Straße und städtische Öffentlichkeit fallen gewissermaßen in eins“ (Zinnecker 1979, S. 727f; zit. n. Nissen 1998, S.158f).
2.2 Verhäuslichung
Im öffentlichen Raum sind dem Kind qualitativ andere Beziehungen zu Erwachsenen möglich als in nicht-öffentlichem Raum wie der Familie oder halb-öffentlichen Raum wie der Schule. Nissen (1998, S.159) beschreibt die Unterschiede: „Während die Rollenverteilungen und Regelsysteme in Familie und Schule ziemlich festgelegt sind, gehen Spektrum und Formen der Kontakte in öffentlichen Räumen darüber hinaus; hier kann das Kind eigenständige Beziehungen - auch durchaus konflikthafte - zu erwachsenen Personen in vielfältigen Funktionen, Positionen und Situationen aufnehmen.“
Kinder, die sich, wie noch vor einigen Jahrzehnten häufiger anzutreffen, ausschließlich oder überwiegend auf der Straße aufhalten, gibt es nach Nissen heute kaum noch. Abgesehen von tatsächlichen „Straßenkindern“, deren gesamte Existenz unserem Begriffsverständnis nach auf der Straße stattfindet. Zinnecker spricht heute von der „verhäuslichten Kindheit“, die die Straßenkindheit zum größten Teil abgelöst hat.
Die Straßenkindheit ist in der Zeit zwischen 1870 und 1920 im Zusammenhang mit der zunehmenden Urbanisierung und Industrialisierung entstanden. Betroffen waren vor allem Kinder der städtischen Unterschichten. Bei Kindern kleinbürgerlicher Familien fand sich eine Mischform, während Kindheiten der oberen Schichten bereits weitgehend verhäuslicht waren (vgl. Nissen 1998, S.164).
Nissen bezieht sich auf Behnken/Zinnecker und beschreibt, dass Kindheit auf der Straße sowohl von Jungen als auch von Mädchen gelebt wurde, etwa im Alter von drei bis vierzehn Jahren. Im Gegensatz zu den damaligen Bildungseinrichtungen um 1900 waren die Geschlechter hier also nicht getrennt.
Hier war kaum etwas vorgegeben, die Kinder konnten frei spielen, entdecken und mussten sich selbst ihre Spielregeln schaffen. Dies hat auch eine politische Dimension, wie Behnken und Zinnecker (1987, S.87 zit. n. Nissen 1998, S.152) feststellen: „Manche Straßengruppen und - erfahrungen entwickelten sich zu politischen Gruppen und Erfahrungen weiter: Die auf den Straßen während der Kindheit gewonnenen Handlungsperspektiven wurden auf die Folie politisch- öffentlichen Handelns übertragen. So lassen sich lokale Widerstandsformen in Arbeiterquartieren unschwer auf Spiele und Kämpfe der Straßenkämpfe rückübertragen.“
Zunehmende Entstehung von gesonderten Bildungseinrichtungen für Kinder sind zum größten Teil mitverantwortlich für die Verhäuslichung der Kindheit. Das Privileg eine solche Einrichtung zu besuchen, war noch vor 400 Jahren nur Kindern höherer Schichten vorbehalten. Heute ist dies anders, weshalb auch die Verhäuslichung in unserer Zeit ein viel stärkeres Phänomen ist, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte.
Voraussetzung für eine Schulkindheit wie auch einer Straßenkindheit ist vor allem die „Entstehung von Kindheit als einer eigenständigen Lebensphase, die von Lernen und Spielen gekennzeichnet ist“ (vgl. Nissen, S.165), also eine Ablösung der Perspektive, Kinder seien einfach kleine Erwachsene, wie es noch die Vorstellung im Mittelalter war. Phillippe Ariès verfolgte die Entstehung der Kindheit anhand von Kunstwerken aus den verschiedenen Epochen und schreibt beispielsweise zum Mittelalter: „Bis zum 17. Jahrhundert kennt die mittelalterliche Kunst die Kindheit entweder nicht oder unternahm doch jedenfalls keinen Versuch, sie darzustellen. Es fällt schwer zu glauben, daß diese Tatsache der Ungeschicklichkeit oder Unfähigkeit der Künstler zuzuschreiben ist. Man sollte eher annehmen, daß in jener Welt kein Platz für die Kindheit war“ (Ariès 1975, S.92).
Zinnecker beschreibt folgende Merkmale der Verhäuslichung. Verhäuslichung ist
„ ein gesellschaftliches Gestaltungsprinzip, das darauf basiert, soziale Handlungen mit Hilfe dauerhafter Befestigungen voneinander zu isolieren und auf diese Weise stabile und berechenbare Handlungsräume zu schaffen Verhäuslichung grenzt die Bewegungsfreiheit menschlicher Körper als Handlungsträger ein. Die stabile Ordnung der Räume verlangt nach statischen Körpern; nach Körpern, die sich mit einer gewissen Präzision und Berechenbarkeit in der umgrenzten und durchgestalteten Umwelt bewegen können. Gewisse archaische Handlungsmuster ... werden obsolet; ebenso wie es der sozialen Umwelt erschwert wird, in die verhäuslichten Handlungsabläufe einzudringen (Verhäuslichte Handlungsorte) befördern die bestimmte normative Zuordnung von Handlungstypen zu Orten. Welche sozialen Handlungen und Handlungssequenzen sind für diesen Typus von Ort gesellschaftlich vorgesehen und welche sind dort ausgeschlossen? Die räumlich soziale Ordnung der Gesellschaft läßt sich auf diese Weise stabiler in der Geschichte verankern, als dies mit rein symbolischen Territorialitäten möglich wäre“ (Zinnecker 1990a, S. 143f; zit. n. Nissen 1998, S.165f).
Kinder werden also in Bahnen geleitet, die es möglich machen, sie immer im Blick zu haben. Eltern wissen, wo ihre Kinder gerade sind, was sie machen und von wem sie betreut werden. Kinder finden von Erwachsenen geplante Spiellandschaften vor, die konkrete Spielerwartungen an sie stellen.
Kinder werden mehr und mehr durch immer stärke Bebauung, steigendes Verkehrsaufkommen usw. aus dem öffentlichen Raum und in geschützte spezialisierte Räume gedrängt, während die Zahl und Qualität der Binnenräume (Wohnung, Kinderzimmer) sowie halböffentlicher Räume wie Spielplätze, Vereinsräume steigt. Von Situationen, in denen Kinder früher ganz automatisch der gesellschaftlichen Umwelt begegnet sind, und einfach als Teil der Gesellschaft am öffentlichen Leben teil hatten, sind Kinder immer weiter entfernt. Diese Funktionen „werden nun in spezialisierter und separierter Form von diesen verhäuslichten Handlungsräumen übernommen“ (Nissen 1998, S.166).
2.3 Verinselung
Die Sozialisation in den oben genannten verhäuslichten Handlungsräumen ist damit auch nicht mehr zwingend an die nähere Umgebung der elterlichen Wohnung gebunden. Die starke Ausdifferenzierung und Kommerzialisierung sämtlicher Angebote, die Kindern zur Verfügung stehen, sei es nun im Bereich des Sportes, der Kultur oder anderer pädagogischer Einrichtungen führen dazu, dass es nicht mehr in jedem Stadtviertel ähnlich Angebote gibt. „An deren Stelle treten Abhängigkeiten von den Möglichkeiten der Angebote kommerzieller und pädagogischer Einrichtungen, die wie verhäuslichte Inseln (‚verinselte Kindheit‘) über den urbanen Raum verstreut liegen“, wird (Zinnecker 1990a, S.155) bei Nissen (1998, S.166f) zitiert.
Der Ausdruck „verinselte Kindheit“ weist auf die von Helga Zeiher festgestellte Tendenz zur Entstehung verinselter Lebensräume hin. Sie stellt damit die Ablösung vom Modell des einheitlichen Lebensraumes heraus, in der von Elisabeth Pfeil in den 50er Jahren die räumliche Aneignung der Umwelt durch die Kinder in konzentrischen Kreisen beschrieben wird. Die Kritik Zeihers liegt in der Heterogenität der modernen Lebensräume: „Dieses Modell des einheitlichen Lebensraumes setzt voraus, daß alle Funktionstrennungen so gleichmäßig gestreut und so dicht im Raum verteilt sind, daß im Prinzip um jede Wohnung herum ein Segment herausgeschnitten werden kann, in dem alles Tun seinen Ort finden kann“ (Zeiher 1983, S.187; zit. n. Nissen 1998, S.167). Das Modell des einheitlichen Lebensraumes wird abgelöst durch das Modell des verinselten Lebensraumes, der aus „separaten Stücken [besteht], die wie Inseln verstreut in einem größer gewordenen Gesamtraum liegen, der als Ganzer unbekannt oder zumindest bedeutungslos ist“ (ebd.).
2.4 Institutionalisierung
Die Phänomene Verhäuslichung und Verinselung sind eng damit verknüpft, dass eine moderne Kindheit immer stärkerer Institutionalisierung unterliegt. Kinder verbringen immer mehr Zeit in pädagogischen Einrichtungen wie Schule, Kindergarten, Kinderhort. Ihre Freizeit - man muss hier also schon bei Kindern die Institution „Freizeit“ berücksichtigen - verbringen sie auch immer häufiger unter stark institutionalisierten Bedingungen bei Kirchen, Kommunen, Vereinen, Verbänden, Schulen oder auch kommerziellen Veranstaltern (vgl. Nissen 1998, S.168).
„Kennzeichnend für diese als ‚institutionalisiert‘ bezeichneten Räume (Freizeitangebote) sind feste Termine, ein festgelegter zeitlicher Umfang, eine gewisse Verbindlichkeit (.z.B. durch Anmeldung oder Gebühren) sowie die Existenz bestimmter gesellschaftlicher Normen“ (ebd.). Eine zusätzliche Erscheinung neben dieser fortschreitenden Institutionalisierung, Verhäuslichung und Verinselung ist wohl, dass es nicht mehr selbstverständlich für Kinder ist, in der näheren Wohnumgebung etwa gleichaltrige Spielgefährten zu finden. Dies ist vor allem bedingt durch den Geburtenrückgang.
Es werden also nicht nur ehemals öffentliche Aktivitäten in institutionalisierte Binnenräume verlagert, sondern auch Aktivitäten, die ehemals vorwiegend in Privaträumen ausgeübt wurden, wie die fortschreitende Entstehung spezieller kultureller Freitzeitangebote für Kinder zeigen (vgl. a.a.O., S.168f).
Diese o.g. Entwicklungen wirken sich massiv auf den Tagesablauf des Kindes aus, wie man bereits an dem für ihr Alter schon recht gefüllten Terminplan der fünfjährigen Jana (vgl. Einleitung) sehen kann. Beck-Gernsheim spricht hierbei von einer „Inszenierung der Kindheit“ (1987; zit.n. a.a.O., S.169). Es erfordert mehr Planung und Absprachen, wenn Bildungs- und Spielorte des Kindes weiter voneinander entfernt liegen. Evtl. Busfahrzeiten müssen berücksichtigt werden, die Eltern müssen sich darum kümmern, wie das Kind von A nach B kommt, usw. Insgesamt geht viel Spontaneität verloren; häufig setzt sich der Alltag eines Kindes wie ein Patchwork aus den verschiedensten Einrichtungen und somit auch schon aus verschiedensten sozialen Kreisen zusammen. Kontakte finden nur zu bestimmten Zeitpunkten statt, an jedem der verschiedenen Orte trifft das Kind andere Kinder.
3 Zusammenfassung
Die hier zusammengestellten Theorien über veränderte Rahmenbedingungen der kindlichen, also „primären Sozialisation“, um in der Terminologie von Berger/Luckmann (1980 S.139) zu sprechen, werfen nun die Frage auf, ob es denn heute überhaupt keine „Straßenkindheit“, keine Kinderöffentlichkeit mehr gibt. Ebenso ist natürlich interessant, welche möglichen Folgen - positive wie negative - die zunehmende Verhäuslichung, Verinselung im Zuge der Institutionalisierung der Kindheit mit sich bringt. Diese zunächst soziologisch zu betrachtenden Auswirkungen stellen wiederum neue Anforderungen bzw. auch Anfragen an die Pädagogik, die sicherlich in den letzten Jahren auch ihren Beitrag zu dieser Institutionalisierung und zunehmenden Professionalisierung der Kindesbetreuung geleistet hat.
Auch wenn es die Straßenkindheit der Zeit der Industrialisierung nicht mehr geben mag, so gibt es doch noch immer eine - wenn auch veränderte - Kinderöffentlichkeit. Kinder haben einen Schulweg, den sie meist ohne Begleitung der Eltern zurücklegen, sie gehen zum Einkaufen, spielen mit Kameraden im Freien. Kinder erschließen sich zum Teil auch völlig neue öffentliche Räume, die sonst für Kinder nicht - oder zumindest nicht ohne Begleitung Erwachsener - zugänglich waren wie Einkaufsstraßen, Busbahnhöfe usw (vgl. Nissen 1998, S.169f).
Eine inszenierte, institutionalisierte Kindheit muss im Hinblick auf die Sozialisation ambivalent bewertet werden: Zum einen kann der ständige Wechsel zwischen den Orten, die wie Inseln im Raum verstreut liegen, zu einer „Entsinnlichung des Lebenszusammenhanges“ führen.
„Zwischenräume [können] aufgrund der wachsenden Distanzen zwischen den Teilräumen nicht mehr erlebt werden, sondern [werden] durch technische Medien wie Telefon und Fernsehen zeitlos überbrückt. Spontanes Handeln [ist] in einem verinselten Lebensraum erschwert (...). [Das] Netzwerk von Terminen [wird] komplexer und der Tagesablauf [enthält] mehr feststehende Partialisierungen. Die Ausbildung stabiler sozialer Beziehungen [wird] erschwert, die Unverbindlichkeit der sozialen Bezüge gefördert“ (Zeiher 1983, S.187; zit. n. Nissen 1998, S.167).
Andererseits bedeutet dies auch die Vorbereitung des Kindes auf die Anforderungen der Moderne. Wie in 1.1 bereits erwähnt, wird Sozialisation verstanden als „Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ (Geulen/Hurrelmann 1980, S.51 zit. n. Nissen 1998, S.20). Wenn denn die Bedingungen der Sozialisation mit den aktuellen Merkmalen der Gesellschaft übereinstimmen, so kann man doch von einer „erfolgreichen Sozialisation“ sprechen. Auch Simmels „moderner Mensch“ trägt genau diese Kennzeichen, die man bei einer institutionalisierten Kindheit feststellt. Individualisierung ist bei ihm die wachsende Zahl sozialer Kreise, die sich in einem Individuum schneiden und ihn somit immer eindeutiger definieren und einzigartig machen (vgl. Simmel; zit. n. Lahusen/Stark, S.277). Er erkennt in der Sozialisation des Menschen, also in seiner Individualisierung eine Wiederholung der Modernisierung. Von der Familie ausgehend erweitert der Mensch im Laufe seines Lebens die Zahl der Kreise in denen er sich bewegt, sie werden immer ausdifferenzierter.
Unsere moderne Gesellschaft, die in neueren philosophischen Theorien bereits als postmodern bezeichnet wird (vgl. Fuchs-Heinritz 1973, S.507), wird immer differenzierter und so ist es m.E. auch in gewisser Weise wichtig, dass die kindliche Sozialisation darauf vorbereitet.
Zu vermuten ist auch eine Tendenz zur verstärkten Bildung von Subkulturen. Kinder verbringen immer weniger Zeit in der Öffentlichkeit. Sie treffen also kaum auf andere Erwachsene als ihre Eltern, pädagogisches Personal in den besuchten Einrichtungen oder Freunden der Familie. Ich selbst beobachte im Alltag, dass ich immer weniger Kontakt zu Kindern oder zu älteren Menschen habe. Das mag zum einen daran liegen, dass das Studentenleben - noch dazu, wenn man in einen Studentenwohnheim lebt - sehr abgegrenzt von anderen Gesellschaftsgruppen stattfindet. Allerdings denke ich trotzdem, dass die zunehmende Institutionalisierung von Kindheit (ebenso wie die von alten Menschen) die Bildung von Subkulturen fördert und somit das Bewusstsein geschwächt wird, ein Teil der Gesellschaft zu sein, eingebunden zu sein in eine gemeinsame Geschichte, eine Aufgabe zu haben im gemeinsamen Projekt „Zukunft“.
Auch wenn die zunehmende Institutionalisierung- was obiger Argumentation folgend - vielleicht einfach eine soziale Tatsache, also Realität sui generis ist, wie Durkheim es nennt (vgl. Korte 1999, S.71), sollte die Pädagogik, nicht vergessen, dass das Kind Subjekt seiner Sozialisation ist und auch sein soll. Pädagogik kann weder der Institutionalisierung entgegenwirken, noch kann sie verhindern, dass Eltern aufgrund ökonomischer Zwänge und beruflicher Anforderungen ihren Erziehungsauftrag entgegen dem Subsidiaritätsprinzip immer mehr auf Institutionen übertragen. Sie kann hier höchstens politisch appellativ tätig werden. Allerdings kann Pädagogik sich bemühen, Konzepte zu erarbeiten und anzubieten, in denen Kinder nicht im Sinne einer Bewahrpädagogik vom Leben ferngehalten werden, um sich dann in erlebnispädagogischen Maßnahmen wiederzufinden. Sondern Möglichkeiten zu schaffen, in denen Kindern innerhalb gesetzter Regeln und Grenzen das Vertrauen entgegengebracht wird, ihre Umwelt entdecken und gestalten zu können, ohne ständig kontrolliert oder zu Kreativität aufgefordert werden.
Bibliografie
Ariès, Phillippe: Geschichte der Kindheit. München: dtv 197512.
Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie.
Frankfurt am Main: Fischer 198017.
Fuchs-Heinritz, Werner et. al. (Hsg.): Lexikon zur Soziologie.
Opladen: Westdeutscher Verlag 19733.
Hurrelmann, Klaus: Einführung in die Sozialisationstheorie. Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit.
Weinheim; Basel: Beltz 19934.
Korte, Hermann: Einführung in die Geschichte der Soziologie.
Opladen: Leske + Budrich 19995.
Lahusen, Christian /Stark Carsten: Modernisierung. Eine Einführung in die Lektüre klassisch- soziologischer Texte.
München: Oldenbourg 2000.
Nissen, Ursula : Kindheit, Geschlecht und Raum: sozialisationstheoretische Zusammenhänge geschlechtsspezifischer Raumaneignung.
Weinheim; München: Juventa 1998
Watterson, Bill: Calvin und Hobbes. Mach mir den Tiger.
Frankfurt am Main: Krüger 1995, Bd.11.
[...]
1 Die Daten wurden mittels einer offenen Befragung der Mutter erhoben.
- Arbeit zitieren
- Britta wagner (Autor:in), 2000, Raumerfahrung in der modernen Kindheit; Verhäuslichung, Verinselung, Institutionalisierung, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/100246