Ein wichtiges Ziel der Pädagogik stellt die Erziehung zu personaler Verantwortung dar. Das bedeutet, dass das Individuum in der Lage ist, mündig und selbstverantwortlich zu denken und zu handeln. Im Blick auf wichtige Wegbereiter pädagogischen Denkens und Handelns, soll Immanuel Kants Erziehungsphilosophie auf die Erziehung zur Verantwortung hin kritisch geprüft werden. Nachdem der historische Rahmen der Aufklärung gesteckt wird, soll auf den Erziehungsbegriff bei Kant eingegangen werden. Über das Zustandekommen von Sittlichkeit und der Notwendigkeit von Moral, wird der kategorische Imperativ erklärt und auf die Frage nach Verantwortung untersucht. Es zeigt sich, dass Kant die Maxime des Handelns danach befragt, ob sie gut oder schlecht seien. Es wird also nach der Gesinnung des Handelns gefragt. So kann Kant den Gesinnungsethikern, nicht aber den Verantwortungsethikern zugeordnet werden. Denn was die Folge einer (gut gemeinten) Handlung sind, bleibt in seiner Erziehungsphilosophie, unbeachtet.
Inhaltsverzeichnis
A. Erziehung zur Verantwortung als Erziehungsziel der Gegenwart
B. Welche Rolle spielt die Verantwortung in Kants Erziehungsphilosophie?
1. Pädagogische und historische Rahmenbedingungen
1.1 Das „pädagogische Jahrhundert“ - der pädagogische Rahmen
1.2 Die Aufklärung nach Kant – der historische Rahmen
2. Erziehungsbegriff und Erziehungsziel Kants – ein mögliches Feld des Verantwortungsbegriffs
2.1 Die Notwendigkeit der Erziehung
2.2 Die moralische Erziehung als Erziehungsziel und mögliches Feld der Verantwortung
3. Das Zustandekommen von Sittlichkeit und die Voraussetzungen für Moral
3.1 Der Selbstzweck
3.2 Zwecke
3.3 Das Reich der Zwecke
3.4 Das Prinzip der Autonomie
3.5 Freiheit als Voraussetzung moralischen Handelns
3.6 Das Sollen im kategorischen Imperativ
4. (Fehl-) Schlüsse
4.1 Der naturalistische Fehlschluss bei Kant
4.2 Kant, der Gesinnungsethiker
5. Die Verantwortung in Kants Erziehungstheorie
5.1 Verantwortung der Maxime gegenüber
5.2 Verantwortung für die eigene Person
5.3 Verantwortung anderen Menschen gegenüber
5.4 Verantwortung der Vernunft gegenüber
C. Kritik an der Rolle der Verantwortung in Kants Erziehungsphilosophie
D. Literaturverzeichnis
A. Erziehung zur Verantwortung als Erziehungsziel der Gegenwart
„Verantwortung übernimmt und selbstverantwortlich handelt das sittliche Subjekt, wenn es vor dem Anspruch der Vernunft aus freier Selbstverpflichtung für die Welt in wohlwollender Fürsorge 'einsteht', sich für sie 'einsetzt' und für sein Handeln 'geradesteht'“ (Weber 1999, 212 f.).
Dieses Zitat über Verantwortung von 1999 ist auch heutzutage gültig. Gerade in der Gegenwart spielen Verantwortung und Sorge für die (Um-)Welt eine große Rolle. Im Zuge des Postmodernismus entstand ein Pluralismus und Relativismus an Werten, Prinzipien und Vorstellungen über den Sinn und Inhalt des Lebens (vgl. Weber 2003, 206). Das brachte eine große Unsicherheit und Undurchschaubarkeit mit sich. Die Frage nach dem moralisch „richtigen“ Handeln wurde wichtig (vgl. ebd.). Heute befindet sich der Mensch in einer Gesellschaft der multiplen Möglichkeiten: Individualisierung, Enttraditionalisierung und Entstandardisierung sind bestimmende Faktoren des Lebens. Die Unsicherheit über moralisch richtiges Handeln ist immer noch groß. Diese Unsicherheit steht im engen Zusammenhang mit der Freiheit, die der Mensch heutzutage hat – sowohl im Denken als auch im Handeln. Freiheit ist zwar die Grundlage eines autonomen Menschen. Und soll auch gefördert werden, jedoch endet „Freiheit ohne das dazugehörige Korrektiv der Verantwortung […] in Unmenschlichkeit. Es bleibt unverzichtbare Aufgabe von Erziehung, der Inhumanität entgegenzuwirken“ (Weber 2003, 207). Gerade das „Korrektiv der Verantwortung“, wie Erich Weber es nennt, wird heutzutage gebraucht, um in der pluralistischen und werteunsicheren Welt moralisch und somit auch verantwortlich handeln zu können. Es ist nicht leicht, verantwortlich zu handeln, wird aber aufgrund der gesellschaftlichen Umstände umso wichtiger: „Die Kategorie der (Selbst-) Verantwortung gilt als Leitziel personaler moralischer Erziehung“ (Mertens 1995, 426 ff., zit. n. Weber 1999, 288). In der Pädagogik wird zwischen „Sozialer Verantwortung“ und „Selbstverantwortung“ unterschieden (Geißler 1996, 46 ff. zit. n. Weber 1999): Während bei sozialer Verantwortung die Rechtsverhältnisse im Staat die Rolle der Verantwortung bestimmen, hat der Mensch sich bei der Selbstverantwortung vor seiner eignen Person zu verantworten (vgl. ebd). Um sozial verantwortlich werden zu können, muss der Mensch erst lernen, für seine Person Verantwortung zu übernehmen. Die Person wird in diesem Kontext von Geißler wie folgt definiert: „ Moralisch betrachtet ist die Person ein freies, vernunftbegabtes und selbstverantwortliches (autonomes) sittliches Subjekt, das als individuelle, gewissenszentrierte Instanz für die eigenen wertenden Stellungnahmen und sittlichen Entscheidungen die Verantwortung trägt und diese nicht auf andere abschieben darf“ (Weber 1999, 181 f.). Hier wird deutlich, dass der Mensch, um in der Gesellschaft funktionieren zu können und mündig zu werden (und somit moralisch handlungsfähig zu sein) vor allem Verantwortung braucht.
Die Erziehung zu personaler Verantwortung stellt folglich ein wichtiges Ziel der heutigen Erziehung dar.
Die Bestimmung des Menschen als Person hat verschiedene Ursprünge. Ein wichtiger Ansatzpunkt geht in das Zeitalter der Aufklärung, auf Immanuel Kant, zurück. Er beschreibt den Menschen als vernunftbegabtes Wesen, das die Möglichkeit und auch die Pflicht hat, moralisch zu handeln (vgl. Kant 1925, 125). Der kategorische Imperativ gilt als „universelle Gesetzgebung“: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1925, 122). Weber fügt hinzu: „Letztendlich ist er [, der Mensch,] als vernünftiges, freies und verantwortliches Wesen ein Selbstzweck, eine Person mit Würde, die es zu respektieren gilt (Weber 1999, 181).
Ob der Mensch auch bei Kant zur Übernahme von Verantwortung erzogen wurde, soll erörtert werden. In der Erziehungsphilosophie der Gegenwart stellt Verantwortung ein zentrales Ziel dar. Welche Rolle sie in der Erziehungsphilosophie von Kant gespielt hat und wie genau Verantwortung mit Moralisierung, als eines der wichtigsten Erziehungsziele Kants, zusammenhängt, soll im Folgenden untersucht werden.
Es folgt ein kurzer Überblick über das „pädagogische Jahrhundert“ und die Aufklärung. Nachdem die zeitlichen und gesellschaftlich-historischen Umstände erläutert wurden, wird auf die Erziehungstheorie Kants eingegangen, bis hin zur Klärung der Rolle der Verantwortung.
B. Welche Rolle spielt die Verantwortung in Kants Erziehungsphilosophie?
1. Pädagogische und historische Rahmenbedingungen
1.1 Das „pädagogische Jahrhundert“ - der pädagogische Rahmen
Das 18. Jahrhundert wurde selbst zur damaligen Zeit als „pädagogisches Jahrhundert“ bezeichnet (Koller 2008, 27). Aufklärer und Pädagogen wie Immanuel Kant, Jean-Jacques Rousseau und John Locke trugen durch neue Erziehungstheorien und -modelle maßgeblich zur Namensgebung bei.
Entscheidend war auch die „Entdeckung der Kindheit“ durch den französischen Historiker Philippe Ariès: Obwohl sich schon seit dem 16. Jahrhundert der Blick auf die Kindheit geändert hatte, wurde diese erst im 19. Jahrhundert als eigene Entwicklungsphase anerkannt. Kinder wurden nicht mehr für „kleine Erwachsene“ gehalten, sondern als gesonderte Altersgruppe mit eigenen Bedürfnissen angesehen. (ebd., 28 f). Die Lebensphase der Kindheit verlangte nach einem besonderen Umgang. Das machte die Erziehung umso wichtiger. Erziehungsfragen rückten in den Vordergrund. Nicht nur in der Familie wurde der Fokus mehr auf das Kind gelegt, sondern auch in der Regierung: Schulen, als Orte der Kindererziehung und Vermittlung „systematischer Fähigkeiten“ (ebd., 29), sollten errichtet werden. Obwohl die allgemeine Schulpflicht in Preußen erst im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, fanden die wegbereitenden Diskurse im 18. Jahrhundert statt. Ferner wurde 1779 in Halle die erste Professur für Pädagogik errichtet, die vorher eine Teildisziplin der Philosophie war. (ebd.).
1.2 Die Aufklärung nach Kant – der historische Rahmen
Erziehungsfragen und -diskurse wurden besonders in der Aufklärung bedeutend. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in der die Aufklärung ihren Höhepunkt hatte, veränderte sich der Bezug zur Gesellschaft und das Verhältnis zu Gott. Der „transzendentale Überbau“, der Jahrhunderte lang Begründung und Legitimation der Obrigkeit war, wurde in Frage gestellt. „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (Kant 1967, 55). Desweiteren lautet Kants Definition zur Aufklärung:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich ohne seiner Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant 1967, 55).
Der Mensch besitzt folglich einen Verstand, den er benutzen kann, um selbstständig zu denken und zu handeln. Dass er ihn nicht benutzt und sich lieber von anderen (damals meist dem Adel oder Klerus) leiten lässt, bezeichnet Kant als „Unmündigkeit“ (ebd.). Unmündig ist der Mensch meist durch „Faulheit und Feigheit“: „Es ist so bequem, unmündig zu sein“. (ebd.). Mündig, und damit auch selbsttätig und mutig, ist derjenige, der „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch mach[t]“ (ebd). Das heißt auch, dass sich der Einzelne der Gefahr aussetzt, kritisiert oder bestraft zu werden, oder falsche Entscheidungen zu treffen. Zu Fehlen oder zu „Fallen“, wie es Kant (ebd.) ausdrückt, gehört jedoch zum Prozess, den eigenen Verstand zu benutzen, dazu. Kant bezeichnet es sogar als „Mißbrauch seiner Naturgaben“ (ebd., 56), folge der Mensch blind und unreflektiert Regeln und Vorgaben anderer. Der Weg von der Unmündigkeit zur Mündigkeit ist kein leichter, da der Mensch „dergleichen freier [geistiger] Bewegung nicht gewöhnt ist.“ (ebd.). Dennoch ist Freiheit unbedingte Grundlage vernünftigen Denkens und Handelns. Der Mensch braucht sie als vernunftbegabtes Lebewesen, um das persönliche und gesellschaftliche Ziel der menschlichen Vervollkommnung zu erlangen, welches in der Erziehung wurzelt.
2. Erziehungsbegriff und Erziehungsziel Kants – ein mögliches Feld des Verantwortungsbegriffs
2.1 Die Notwendigkeit der Erziehung
„Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“ (Kant 1997, 3) lautet der erste Satz der Schrift „Über die Erziehung“ von Immanuel Kant. Dem Menschen reicht, im Unterschied zum Tier, der Instinkt nicht aus. Er ist vernunftbegabt und hat damit die Möglichkeit und auch die Pflicht, sein Leben zu gestalten. Anders als beim Instinkt, der schon vorgegeben ist, muss der Mensch die Zusammenhänge im Leben verstehen und Fähigkeiten erlernen. Dazu braucht er Hilfe. Diese Hilfe leistet die Erziehung. (ebd., 3 f). Sie ist das, was den Menschen zum Menschen werden lässt: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“ (Kant 1925, 346). Kant spricht von „Naturanlage[n]“ (Kant 1997,4), die der Mensch inne hat. Diese kann sich der Mensch nur durch Erziehung zu eigen machen. „Weil die Entwicklung der Naturanlagen bei dem Menschen nicht von selbst geschieht, so ist alle Erziehung – eine Kunst. - Die Natur hat dazu keinen Instinkt in ihn gelegt.“ (Kant 1997, 15 ).
2.2 Die moralische Erziehung als Erziehungsziel und mögliches Feld der Verantwortung
Ein wichtiges Erziehungsziel bei Kant ist die Erziehung zur sittlichen Persönlichkeit. Das impliziert, dass die Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit der Vernunft unterworfen werden sollen. (vgl. Schuffenhauer 1984, 23). Die Vernunft soll in Freiheit und Autonomie angewandt werden , um moralisch gut zu handeln zu können. Moralisch denken und handeln zu können ist also Voraussetzung, um eine sittliche Persönlichkeit werden zu können. Die moralische Erziehung beruhe „nicht auf Disziplin, sondern auf Maximen. […] Man muß dahin sehen, daß der Zögling aus eigenen Maximen, nicht aus Gewohnheit, gut handle, daß er nicht bloß das Gute tue, sondern es darum tue, weil es gut ist. Denn der ganze moralische Wert der Handlungen besteht in der Maxime des Guten“ (Kant 1997, 73). Die Erziehung hin zur Moralisierung folgt schrittweise. Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung können dem Zögling beigebracht oder „anerzogen“ werden. Nicht aber die Moralisierung: „Die Maximen müssen aus dem Menschen selbst entstehen“ (Kant 1997, 83). Das ist die Herausforderung an der Erziehung: Den Zögling dahin zu bringen, dass er aus freien Stücken Gebrauch an der Vernunft macht und sich autonom für eine gute Maxime entscheidet. Um sein Handeln nun auf Moral zu prüfen, wendet Kant den kategorischen Imperativ an: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant 1925, 122).
Moral und Sittlichkeit stellen mit die wichtigsten Ziele bei Kants Erziehungstheorie dar. Um den Verantwortungsbegriff bei Kant zu bestimmen, müssen also diese zwei Ziele untersucht werden, da Verantwortung am ehesten dort zu finden ist. Im Folgenden soll ergründet werden, wie Moral und Sittlichkeit zu Stande kommen und wo der Begriff der Verantwortung vorkommt.
3. Das Zustandekommen von Sittlichkeit und die Voraussetzungen für Moral
Der kategorische Imperativ kann als „Hilfsmittel“ für moralisches Handeln gesehen werden. Er verlangt, dass die Maxime eine sei, von der man zugleich wollen kann, dass sie allgemeines Gesetz würde. (vgl. Kant 1925, 122). Um zu begreifen, warum ein Mensch stets die gute Maxime wählen soll, wird in Kants „Metaphysik der Sitten“ das Prinzip der Sittlichkeit in mehreren Schritten erklärt. Begonnen wird mit der Selbstzweckformel.
3.1 Der Selbstzweck
Der Wille des Menschen ist durch einen Zweck selbstbestimmt, nämlich dem Selbstzweck: „Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst“ (Kant 1925, 124). Jeder Mensch hat eine vernünftige Natur (= Vernunft), da Vernunft Voraussetzung und Kennzeichen eines Menschen sind. Ergo gilt das Prinzip für jeden Menschen und sei deshalb objektiv. Es kann als „allgemeines praktisches Gesetz dienen“ (ebd.) und aus ihm können alle „Gesetze des Willens (…) abgeleitet werden“ (ebd). Kant entwickelt aus diesem Gesetz den praktischen Imperativ: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person deines anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (ebd.)
3.2 Zwecke
Der Selbstzweck ist ein absoluter Zweck (gilt für jeden) und kein relativer Zweck (gilt nicht für jeden). Ein relativer Zweck befriedigt beispielsweise einen Wunsch, der an subjektive Bedürfnisse gekoppelt ist, und daher nicht für alle gleichermaßen gilt.
Was sich aus der Unterscheidung zwischen absolutem und relativen Zweck des weiteren ergibt, ist die Unterscheidung zwischen Preis und innerem Wert bzw. Würde:
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