Das Ziel der Proseminararbeit ist es zu untersuchen, welche nützlichen Erkenntnisse der funktionale Ansatz aus der Dekonstruktion und der Psychoanalyse gewinnen kann und ob ihn diese zwei Forschungsdisziplinen eher bestätigen oder widerlegen. Der Fokus liegt hier auf den psychischen Vorgängen im Hintergrund einer Textrezeption, der Subjektivisierung des Translats und Wechselbeziehung zwischen Original und Translat.
Philosophie, besonders dann Dekonstruktion, wird unter den Laien nicht oft mit Übersetzung in Zusammenhang gebracht. Aber gerade dieser Ansatz kann ein neues Licht auf die Translationswissenschaft werfen und sie weiterzuentwickeln. Die Translationswissenschaft versucht sich nämlich neu zu positionieren, indem sie sich selbst aus anderen Perspektiven betrachtet. Die philosophische Strömung der Dekonstruktion bietet dabei ein gutes Mittel dazu, die anerkannten translationswissenschaftlichen Theorien und Methoden zu revidieren.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Skopostheorie und ihre Weiterentwicklung
3. Dekonstruktion
3.1 Dekonstruktion über Translation
3.2 Dekonstruktion und Psychoanalyse
3.3 Dekonstruktion und kritische Pädagogik
4. Bedeutung der Dekonstruktion für den funktionalen Ansatz
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Translationswissenschaft ist vergleichsweise ein ziemlich junger Wissenschaftszweig, deren Gründung als eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fällt und spätenstens seit den 80er Jahren etabliert worden ist (vgl. Prunč 2002: 64). Nach und nach hat sich die Translatologie von der Sprachwissenschaft losgelöst zugunsten einer größeren Interdisziplinarität, was ihr wesentliches Zeichen heutzutage darstellt. Es gibt unzählige Aspekte der Translation, die untersucht werden und die für die aktuelle translatologische Forschungspraxis von besonderer Relevanz sind – seien es die institutionellen Machtgefüge, in denen sich Translatoren bewegen; kommunikationswissenschaftliche Aspekte der Translation; die Textlinguistik; Sprachtechnologien oder die Kognitionswissenschaft. So mag es erscheinen, dass es wenig Raum für neue Forschungsrichungen geblieben ist. Philosophie, besonders dann Dekonstruktion, wird unter den Laien nicht oft mit Übersetzung in Zusammenhang gebracht. Aber gerade dieser Ansatz kann ein neues Licht auf die Translationswissenschaft werfen und sie weiterzuentwickeln. Die Translationswissenschaft versucht sich nämlich neu zu positionieren, indem sie sich selbst aus anderen Perspektiven zu betrachten versucht. Dazu ist die philosophische Strömung der Dekonstruktion ein gutes Mittel, das die etablierten translationswissenschaftlichen Theoreien und Methoden revidiert.
Zu den etablierten Theorien, die für die moderne Translationswissenschaft besonders relevant ist, gehört die sg. Skopostheorie, die den führenden Ansatz in der Translationswissenschaft des deutssprachigen Raumes räpresentiert. Abgeleitet vom griechischen Wort Skopos – der Zweck – wurde sie in 1984 von Hans Vermeer und Katharina Reiß eigeführt (vgl. Polak 2013: 26). Seit ihrer Vorstellung wurde sie auf vielerlei Weise erweitert, sei es durch das Konzept des translatorischen Handelns von Justa Holz-Mänttäri, die Translationsnormen von Gideon Toury oder das Zirkelschema von Christiane Nord. Da der funktionalen Richtung der Translationswissenshaft noch einige Aufgaben bevorstehen, wie beispielsweise die größere Sichtbarmachung des Übersetzers, sucht sie ihre Weiterentwicklung in Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten Fachbereichen, zu denen eben die weiter oben erwähnte Philosophie gehört.
Das Ziel der Proseminararbeit ist es also zu untersuchen, welche nützlichen Erkenntnisse der funktionale Ansatz aus der Dekonstruktion und der Psychoanalyse gewinnen kann und ob ihn diese zwei Forschungsdisziplinen eher bestätigen oder widerlegen. Der Fokus liegt hier auf den psychischen Vorgängen im Hintergrund einer Textrezeption, der Subjektivisierung des Translats und Wechselbeziehung zwischen Original und Translat.
Die Seminararbeit ist inhaltlich in drei Teile gegliedert. Im ersten wird in groben Zügen der funktionale Ansatz vorgestellt, gefolgt vom zweiten Kapitel, das sich der Dekonstruktion aus mehreren Perspektiven widmet. Der dritte Teil der Arbeit hat sich zum Vorhaben gesetzt, die beide vorherigen Themen zusammenzuknüpfen und dadurch versuchen, die Fragestellung zu beantworten. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Arbeit keinen Anspruch auf Endgültigkeit oder Vollständigkeit erhebt – vor allem auf das vierte Kapitel nicht, das auf eigener Interpretation der vorherigen zwei Kapiteln beruht. Außerdem wäre dies in so einem kleinen Ausmaß auch nicht realistisch, diese zu beanspruchen. Was Gender angeht, werden in der Arbeit wegen besserem Lesefluss die männlichen Formen gewählt, wobei Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.
2. Die Skopostheorie und ihre Weiterentwicklung
Die Skopostherie, eingeführt im Jahr 1984 durch Hans J. Vermeer und Katharina Reiß, bildet den Kern des funktionalen Ansatzes (vgl. Polak 2013: 25). In ihrer Entstehungszeit stellte sie einen Paradigmawechsel dar. Sie wendte sich nämlich stark von der traditionellen Äquivalenztheorie ab und rückte hingegen die kulturellen und situativen Faktoren in den Fokus, die den Translationsprozess mitbestimmen. Als Kommunikationseinheit wurde neulich der ganze Text und nicht die einzelnen Satzteile oder gar Wörter betrachtet (vgl. Reiß und Vermeer 1984: 120). Laut dieser Perspektive bilde die Sprache selbst nur einen Teil der gesamten Kommunikation, darum sollte man auch andere Aspekte der Kommunikationssituation berücksichtigen wie z.B. das Vorwissen der Kommunikationspartnern, ihren kulturellen Hintergrund, ihre Sprachkompetenzen oder Erwartungen.
Im vorherigen Absatz wurden zwei Schlüsselbegriffe der Skopostheorie erwähnt, und zwar die „Kommunikation“ und die „Kultur“. Mira Kadric-Scheiber et. al (2019) stellten die Komplexität der Skopostheorie anhand zweier Graphiken dar, in denen diese zwei Begriffe eine zentrale Rolle spielen (siehe beide Anhänge). Die erste Graphik zeigt die kulturelle Prägung jedes Wissens auf. Unsere Wahrnehmung der objektiven Realität ist anhand dieser Abbildung selektiv und richtet sich nach kulturellen Bestimmungen. Wir nehmen also nur das wahr, was für unseren Kulturkreis relevant ist. Daraus ergibt sich nach einer Interpretation ein kulturspezifisches Wissen, das wiederrum mit kulturspezifischen Sprachmitteln zum Ausdruck gebracht wird. Ein Translator sollte sich seiner eigenen Gebundenheit an eine bestimmte Kultur bewusst sein, aus dessen Perspektive er an das Translat zugeht.
In der zweiten Graphik tritt der situative Kontext einer Kommunikation in den Vordergrund. Die Translation wird als eine Art sprachlicher Äußerung betrachtet, auf die sich dieselben Einflussfaktoren beziehen wie auf eine mündliche Kommunikation. Bei der Translation sollten wir dann die aufgelisteten inner- und außersprachliche Merkmale in Betracht ziehen, um eine adäquate Kommunikation zu gewährleisten.
Damit die Kommunikation als erfolgreich gelten kann, muss das Translat primär seinen Zweck (aus dem griechischen Skopos = Zweck) in der Zielsprache erfüllen, unabhängig davon, ob man den Ausgangstext wortgetreu oder angepasst wiedergibt (vgl. Polak 2013: 27). Das heißt, er muss vom Zielempfänger verstanden werden. Das ist der wesentliche Unterschied zur Äquivalenztheorie, die eine größtmögliche Annäherung an den Originaltext in der Zielsprache suchte (vgl. ibid.: 27). Es gibt hier also einen Rutsch vom Ausgangstext zum Zieltext und der Zielgruppe, an die das Translat gerichtet ist. Wie es Kadric et. al. (2019: 62f.) verdeutlichten: „Nicht der Ausgangstext bestimmt das übersetzerische Handeln wie bei den strukturalistischen Ansätzen, sondern der Verwendungszweck.“ Das Translat soll also den Ausgangstext nicht treu abbilden, sondern in erster Reihe seinen Zweck erfüllen. Um den Zweck zu erfüllen, ist es notwendig, dass die weiter oben erwähnte situationellen und kulturellen Kriterien analysiert und an die Zielgruppe angepasst werden. Anpassen muss man bei jeder Übersetzung aus dem Grund, weil die situativen Bedingungen (Anhang Nr.2) der Kommunikationspartnern jedes Mal anders aussehen. Der Übersetzer ist vor die Aufgabe gestellt, aus einer spezifischen Situation den Zweck zu bestimmen und dann abwägen, welche Übersetzungsstrategie er für den konkreten Zweck verwendet.
Ein wichtiger Punkt der Skopostheorie, der im vierten Kapitel nochmal zum Vergleich des funktionalen Ansatzes mit der Dekonstruktion aufgegriffen wird, ist, „[…] dass diese [Texte] keine Bedeutung an sich haben und in sich tragen, sondern dass die Bedeutung durch die Textrezipienten gestiftet wird“ (Kadric et al. 2019: 39). Mit anderen Wörtern interpretiert der Rezipient den Text aus seiner eigenen kulturspezifischen Position und figuriert also als Garant des Verständnisprozesses. Die Verantwortung in diesem Zugang für die Kommunikation liegt beim Textrezipienten, der das Kommunikationsziel erkennen soll.
Die Skopostheorie wurde in den nächsten Jahren und Jahrzehnten von anderen Vertretern der „funktionalen Schule“ weitergedacht und -entwickelt. So ist beispielsweise die Theorie des Translatorischen Handelns von Justa Holz-Mänttäris zu nennen, die die soziale Rolle des Übersetzers beim translatorischen Handeln beobachtet. Translatoren seien im Netzwerk mit anderen Handlungsträgern verbunden (vgl. Polak 2013: 25). Jedes Mitglied dieses Netzwerkes vertritt eine bestimmte Position – eine bestimmte Handlungsrolle. Die Bestimmung der einzelnen Rollen ist wichtig für die Bestimmung der kommunikativen Ziele und der Auftragspezifizierung. Des Weiteren ist die funktionale Theorie von Christiane Nord oder Beiträge zum kreativen Übersetzen von Paul Kußmaul zu erwähnen. Der kleine Rahmen dieser Arbeit lässt es leider nicht zu, auf diese Theorien näher einzugehen.
3. Dekonstruktion
So wie Ferdinand de Saussure die zentrale Figur des Strukturalismus war, wurde Poststrukturalismus maßgeblich vom französischen Philosophen Jacques Derrida und seinem neuen Ansatz der Dekonstruktion geprägt, der sich in den späten 60ern entwickelte (vgl. Babka 2003: 8). Ursprünglich ist Dekonstruktion1 dem Bedürfnis nach einem neuen Interpretationsmittel der philosophischen und literarischen Texte entsprungen. Indem sie die traditionellen Auffassungen und Konzepte in der Philosophie anzweifelt, gleichzeitig aber keine konkrete Leitschnur in Form von einer Methode oder Theorie zu einer Problemlösung anbietet, fordert sie zwangsläufig zu einem Umdenken auf.
Die Dekonstruktion zielt auf Durchbrechen unserer Denkweise, das sich gewöhnlich in starren Kategorien und präzisen hierarchischen Strukturen bewegt. Kritisiert werden vor allem die Begriffe, die traditionell in Opposition zueinanderstehen, wie z.B. Original x Translat, Sprache x Schrift oder Signifikat x Signifikant (vgl. Arrojo 2010: 247+249). Diese Gegensatzpaare haben ihre fast unantastbare und unbezweifelbare Machtposition im wissenschaftlichen Diskurs dank einem dauerfristigen Konsensus erlangt, den Derrida aufzulösen versucht. Die Auflösung der eingebürgerten Bedeutungsgrenzen soll zu einer differenzierteren Begriffswahrnehmung führen (vgl. Dizdar 2006: 125f).
Wie wird aber bei der Dekonstruktion praktisch vorgegangen? Es gibt zwei wesentliche Mitteln, die eine Neulektüre ermöglichen – Sous Rature und différance. Die Methode des Sous Rature hat Derrida von Martin Heidegger übernommen, der versuchte, das „Sein“ zu definieren. Dieser Versuch ist fehlgeschlagen, weil sich die Metasprache nicht der Sprache entziehen kann, der begrenzte Mitteln zur Verfügung stehen, die Realität in ihrer Mehrdeutigkeit zu erfassen. Den Ausweg aus dieser Situation hat Heidegger in der Durchstreichung des Wortes gefunden. Es ist notwendig, dass das Wort im Text stehenbleibt, weil die Sprache keinen passenderen Ausdruck kennt. Gleichzeitig weist der Strich aber auf die Unmöglichkeit hin, die komplexe und vielschichtige Beschaffenheit eines Begriffes abzubilden (vgl. Dizdar 2006: 130f.). Das wäre der erste Schritt, sich vom Denken – gefangen in den Begriffen – zu befreien.
3.1 Dekonstruktion über Translation
Das zweite wichtige Mittel des dekontruktivischen Denkens, das für die Translationswissenschaft von großer Wichtigkeit ist, ist die différance2 . Mit dem Konzept der différance fordert Derrida zum kritischen Umdenken der traditionellen Sprachauffassung auf.
Der klassischen – essentialistischen – Sprachauffassung, dessen Wurzeln bis in die Antike fallen, liegt die Unterscheidung zwischen Form (Signifikant) und Inhalt (Signifikat) eines sprachlichen Zeichens zugrunde. Die Beziehung zwischen denen ist arbiträr. Die Essentialisten glaubten daran, dass es möglich ist, jedem Gegenstand der objektiven Realität eine fixe Bedeutung (Signifikat) zuteilen. Die Sprache diene nur dazu, die gegebene Realität zu beschreiben und die „unveränderbaren“ Bedeutungen wiederzugeben (vgl. Arrojo 2010: 147f.). Die Bedeutung eines Zeichens hängt also von unserer mentalen Bild ab, das wir in Beziehung mit dem Gelesenen oder Gehörten Begriff setzen (vgl. Goldgaber 2019: 141). Der Übersetzer kann den Übersetzungsprozess als „exchange of meanings“ (ibid.: 141) sehen, bei dem es zum Tausch ausgangssprachlicher Signifikanten für die fremdsprachlichen kommt, während das Signifikat gleich bleibt. Über-setzen ist hier also keine Metapher.
Zusammenfassend kann man sagen, dass durch die Zuordnung einer bestimmten Aussagekraft jeweils einem Zeichen wird die mögliche Bedeutungspluralität des Begriffes logischerweise reduziert. Dadurch kann man das traditionelle Streben nach einer idealerweise vollen Äquivalenz beim Übersetzen besser nachvollziehen, die jedoch eine negative Auswirkung für den Stellenwert eines Übersetzers in der Gesellschaft zur Folge hat (vgl. Arrojo 2006: 102). Der Übersetzer figuriert hier nämlich nur als passiver Vermittler der Zeicheninhalte, der den Ausgangstext nicht transformiert, sondern lediglich reproduziert.
An diesem Punkt mögen wir an die différance wieder anknüpfen. Die différance ist ein genaues Gegenteil des Essentialismus und ist im Vergleich viel dynamischer. Sie ist ein Zustand der ständigen Bedeutungsbewegung. Die Bedeutung des Begriffes ist nicht in einer transzendentalen Realität zu suchen, sondern sie ist unter den einzelnen Begriffen zu finden (vgl. ibid.: 101). Somit wird unsere Aufmerksamkeit beim Lesen und Analysieren weg von den einzelnen Wörtern gelenkt, unser Glaube an die Wortwahrheit und -vollständigkeit wird erschüttert, was letztendlich eines der Ziele der Dekonstruktion ist. Derrida behauptet, dass es keine einzige gegebene Wortwahrheit3 gibt, sondern dass man sich zur Bedeutung erst durch Zusammentragen aller möglichen Differenzen und Nuancen, die das Wort zu den anderen hat, annähern kann (vgl. Davis 2020: 140). Dies impliziert, dass die Wahrheit nicht in einem Wort präsent ist, sie ist im „systematic play of differences that generates meaning“ (ibid.: 140) enthalten. Die Text- oder Wortbedeutung ist wie eine flüssige Materie, die einem bei jedem Versuch sie festzuhalten, ständig entgeht. Der Wort- und Textsinn wird ewig in der Zeit verschoben und somit immer nur vorläufig.
Um es nochmal klarzustellen: Jedes Zeichen trägt in sich sowohl seine Bedeutungsessenz, gleichzeitig aber auch eine Spur aller vergangenen, gegenwärtigen und auch zukünftigen Bedeutungen, die dem Zeichen in diversen Kontexten und Situationen innerhalb eines Diskurses zugeschrieben wurden (vgl. ibid.: 140).
Mit différance ist eng auch das Thema der Übersetzbarkeit verknüpft. Wenn es einerseits nur fixe transzendentale Bedeutungen gäben würden, wäre die Translation als Wissenschaftsdiziplin nicht notwendig und Übersetzer würden ihre Expertenrolle verlieren. Wenn es andererseits gar keine Einheit zwischen Signifikat und Signifikanten gäbe, wäre es unmöglich zu übersetzen. Es ist also etwas dazwischen, was immer variiert – einmal mehr Richtung Äquivalenz, einmal mehr die Richtung des freien Übersetzens (vgl. Arrojo 1997: 168f.).
[...]
1 Eine Neubildung durch Zusammengesetzt aus: „Destruktion“ und „Konstruktion“
2 Neologismus, vereint „différer“ mit „différence“; das „a“ ist absichtlich als Kritik an die vermeintliche Überlegenheit des Mündlichen über das Schriftliche
3 mit „Wahrheit“ wird auch „Bedeutung“ mitgemeint