Die folgende Arbeit geht der Frage nach, welche Bedeutung und Funktion die Licht- und Schattenelemente für das
Irdische und Überirdische im Ballettstück "La Bayadère" haben. Das Erkenntnisinteresse besteht also darin, inwiefern Licht und Schatten sowie der tanzende Körper räumliche Polaritäten öffnen, bebildern und verwandeln können. Wie wird mit dem real sichtbaren und unsichtbaren Körper und Raum in dem romantischen Werk umgegangen? Wie kann sich eine Figur dem Publikum präsentieren und ebenso die Präsenz des Abwesenden verkörpern, sodass gar anwesende Figuren als unsichtbar erscheinen?
Ausgehend von der Tatsache, dass sich im Romantischen Ballett zwei unterschiedliche Räume überlagern, die erst durch die Bewegungen der Figuren hervorgebracht, gestaltet und verwandelt werden, widmet sich der erste Teil dieser Arbeit allgemein den Tendenzen des Bühnentanzes im 18. und 19. Jahrhundert.
Um diese Fragen anschließend analytisch zu beantworten, werden neben wissenschaftlicher Literatur und Bildmaterial insbesondere Erinnerungsprotokolle und Forschungsnotizen von zwei Aufführungsbesuchen des Ballettstücks "La Bayadère" am 15. und 28.Dezember 2018 herangezogen. Zu jenem Zeitraum leisteten der choreographische Leiter Alexei Ratmansky und der Kostüm- und Bühnenbildner Jerôme Kaplan mit dem großen Werk an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin einen Beitrag zum Kanon wichtiger Rekonstruktionen aus der Geschichte des Balletts.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Tendenzen des Buhnentanzes im 18. und 19. Jahrhundert
1.1 Ballett d‘Action
1.2 Romantisches Ballett
2. Licht- und Schattenelemente in La Bayadere
2.1 Handlungsablauf
2.2 Szenerie des Irdischen und Uberirdischen
3. Resumee
4. Bibliographie
Anhang
Einleitung
Sehnsuchtig, leidenschaftlich, harmonisch, weiE, schattenhaft, verwunschen, idyllisch, geheimnisvoll, friedlich, leise, achtsam, ruhig, muhelos, melancholisch, unendlich weit, ausgestreckt, schwerelos, luftig, leicht, zerbrechlich, zart, weich, anmutig, sinnlich, weiblich, fein, grazil, erotisch, synchron, perfekt, kontrolliert, virtuos, traumhaft, schon, pittoresk, fantastisch, spitzenhaft, abstrakt, fluchtig, unnahbar, distanziert, uberirdisch, prachtvoll, glanzend, bezaubemd, phanomenal, ergreifend, pompos, elegant, malerisch - romantisch.1
Es 1st der weiEe Akt im romantischen Ballett La Bayadere2, dem die zuvor aufgefuhrten Eigenschaften zugesprochen werden konnen. Unter der kunstlerischen Leitung von Marius Petipa (1818-1910) wurde das Werk 1877 am Bolschoi-Theater in St. Petersburg in vier Akten und sieben Bildern uraufgefuhrt. Das ballet blanc („weiEer Akt“) kennzeichnet darunter einen imposanten Auftritt von 32 Ballerinen, bei dem vielmehr die Bewegungen und die technischen Kompetenzen im Vordergrund stehen, als die Handlung oder das Libretto. Es sind ausschlieElich weibliche Schattenfiguren, die, wie der Fruhromantiker Novalis (17721801) es bereits in seinen Fragmenten und Studlen uber den Prozess der Romantisierung beschrieben hatte, scheinbar sich ausschlieEende Gegensatze zusammenfuhren:3 das Immanente und Transzendente, das Irdische und Uberirdische.
Ausgehend von der Tatsache, dass sich im Romantischen Ballett zwei unterschiedliche Raume uberlagern, die erst durch die Bewegungen der Figuren hervorgebracht, gestaltet und verwandelt werden,4 widmet sich der erste Teil dieser Arbeit allgemein den Tendenzen des Buhnentanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Hierfur wird der Entwicklungsprozess vom Ballet d‘Action („Handlungsballett“) zum Romantischen Ballett auf der Basis tanzspezifischer Quellen nachgezeichnet. Wurden im Ballet d‘Action des 18. Jahrhunderts zunachst Forderungen dramatischer Handlungen sowie das Bestreben nach „Naturlichkeit“ und Sinnlichkeit umgesetzt, erweiterte sich dies im 19. Jahrhundert mit dem Romantischen Ballett auf eine ubernaturliche Sphare, dem Raum unendlicher Sehnsuchte.
Der tanzhistorische Rahmen soil im zweiten Teil dazu dienen, um der zentralen Frage nachzugehen, welche Bedeutung und Funktion die Licht- und Schattenelemente fur das Irdische und Uberirdische im Ballettstuck La Bayadere haben. Mein Erkenntnisinteresse besteht also darin, inwiefern Licht und Schatten sowie der tanzende Korper raumliche Polaritaten offnen, bebildern und verwandeln konnen. Wie wird mit dem real sichtbaren und unsichtbaren Korper und Raum in dem romantischen Werk umgegangen? Wie kann sich eine Figur dem Publikum prasentieren und ebenso die Prasenz des Abwesenden verkorpem, sodass gar anwesende Figuren als unsichtbar erscheinen?
Um diese Fragen analytisch zu beantworten, werden neben wissenschaftlicher Literatur und Bildmaterial insbesondere meine Erinnerungsprotokolle und Forschungsnotizen von meinen zwei Auffuhrungsbesuchen des Ballettstucks La Bayadere am 15. und 28. Dezember 2018 herangezogen. Zu jenem Zeitraum leisteten der choreographische Leiter Alexei Ratmansky und der Kostum- und Buhnenbildner Jerome Kaplan mit dem groEen Werk an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin einen Beitrag zum Kanon wichtiger Rekonstruktionen aus der Geschichte des Balletts. Fur eine auffuhrungsanalytische Untersuchung, die hieraus folgte, richte ich mich kurzum an Fischer-Lichte‘s Pladoyer leiblicher Ko-Prasenz von Publikum und Darsteller/innen:
„Von Auffuhrungsanalyse ist [...] im Folgenden nur die Rede, wenn vorausgesetzt werden kann, dass der/die Analysierende an der betreffenden Auffuhrung selbst teilge- nommen hat und so Teil des autopoietischen Prozesses gewesen ist, in dem die Auffuhrung entstand. In alien anderen Fallen handelt es sich um die Analyse von Quellen und Dokumenten zu einer Auffuhrung oder auch von Spuren, die sie hinterlassen hat.“5
Meine subjektive Wahmehmung, die beim zweiten Auffuhrungsbesuch von meiner zentralen Forschungsfrage beeinflusst wurde, wird mit dem Hintergrund tanzhistorischer Uberlegungen einen wesentlichen Bestandteil der Analyse darstellen. Ein Resumee sowie Gedanken uber meine zentrale Fragestellung hinaus werden diese Arbeit abschlieEen.
1. Tendenzen des Buhnentanzes im 18. und 19. Jahrhundert
Mit dem Hang fur alles Schone, konkret: der Tanzkunst, grundete Ludwig XIV., „Sonnenkonig“ am Schloss von Versailles, im Jahr 1661 die erste Ballettschule: L‘Academie Royale de la Danse.6 Es resultierte eine Aufwertung jener Kunstform, indem sie unter der Leitung professioneller Tanzmeister vereinheitlicht und in die hofische Representation eingebunden wurde. Die daran anschlieEende Entwicklung vom Ballet de Corn („Hofballett“) zum Ballet d‘Action um 1700 konzentrierte sich jedoch keinesfalls nur auf den franzosischen Hof.7 Die Abkehr vom selbstinszenierten Schautanz des hofischen Adels, welcher neben der aristokratischen Vergnugung aller Art mitunter auch politische Absichten verfolgte, vollzog sich vielmehr auf intemationaler Ebene.8 Das Handlungsballett, zunachst als Theatertanz bei groEeren Kulturveranstaltungen untergliedert, bildete sich durch verschiedene Stromungen als eigenstandige Kunstform heraus: Es waren etwa die pantomimischen Praktiken Englands sowie Wanderschauspieler/innen und Jahrmarktkunsder/innen im Sinne der Commedla delVArte („Berufsschauspielkunst“), die das Balletd‘Action beeinflussthatten.9
1.1 Balletd‘Action
Erste Auffuhrungen, die sich - im Vergleich zum Ballet de Corn - an eine wesentlich breitere und aufgeklart-burgerliche Offentlichkeit richteten, fanden im deutschsprachigen Raum statt. Franz Anton Hilverding van Wewen (1710-1768), Hofballettmeister in Wien, beeindruckte sein Publikum mit Ballettpantomimen und gilt damit als einer der Vorlaufer des Handlungsballetts. Mit der Absicht, das Ballett neben der Oper und dem Schauspiel als gleichwertige und unabhangige Kunstform zu reformieren, folgte einerseits sein Schuler Gasparo Angiolini (1731-1803). In seinen praktischen Umsetzungen stellte Angiolini vomehmlich dramentheoretische Fragen in den Mittelpunkt.10 Andererseits wurde unter Karl Eugen von Wurttemberg (1788-1857) der Stuttgarter Hof bekannt: Der Tanzer und Choreograph Jean George Noverre (1727-1810) gab von hier aus unter der Betrachtung der Medialitat des Bildes entscheidende Impulse, dass sich „der Buhnentanz im 18. Jahrhundert zu einer gestischen und ,empfindsamen‘, die Natur nachahmenden Kunstgattung aus pantomimischen Handlungen - kurz: zu einem ballet en action“ entwickeln konnte.11
Ausgehend von den Reformideen des franzosischen Librettisten Louis de Cahusac (1706-1759) veroffentlichte Noverre im Jahr 1760 seine Lettres sur la danse et sur les ballets, in denen er insbesondere eine dramatische Handlung sowie den Ausbruch von Leidenschaften auf der Buhne verlangte.12 Als Aufklarer seiner Zeit beabsichtigte er, das gesungene oder gesprochene Wort durch die Einbeziehung der Pantomime im Sinne des antiken Theaters zu ersetzen. Daruber hinaus war Noverre darin bestrebt, die geometrische Anordnung der tanzenden Korper, wie es zuvor im Hofballett gangig war, zu uberwinden:
„Kunst bedeutet, die Kunst verstecken zu konnen. Ich predige nicht Unordnung und Verwirrung. Ich will vielmehr, dass auch in der Unordnung noch Ordnung herrschen soil. Ich verlange sinnvolle Gruppen, uberzeugende Stellungen, die stets naturlich bleiben sollten. Sie mussen so angeordnet sein, dass man nirgendwo die Muhsal des Anordnens bemerkt. Jede Figur muss mit Geschmack entworfen und gekennzeichnet sein, aber keine, und mag sie noch so kunstvoll sein, darf lange verweilen.“13
Noverre pladiert an dieser Stelle fur das Ephemere, das heiEt fur alles Fluchtige und Vergangliche, wobei einzig die schnellen und aufeinander folgenden Bewegungen eine eindringliche Bildkraft haben wurden. Das Ballett beschreibt er schlieElich als Kunst des Zeichnens von Formen und Figuren und positioniert es zwischen dem Tanz, der durch die Regeln des Geschmacks und des Anstandes bestimmt sei, und der Pantomime, die gestisch den beseelten Ausdruck vermitteln wurde.14 Noverre, der den Tanz beinahe analog zur Malerei betrachtete und darin eine universell verstandliche Sprache erkannte,15 verband diese drei Aspekte in der Vorstellung eines Gemaldes:
„Die Buhne ist die Leinwand, die mechanisch-technischen Bewegungen der Tanzer sind die Farben, ihre Mimik ist, wenn ich mich so ausdrucken darf, der Pinsel. Die Verknupfung und die Lebhaftigkeit der Szenen, die Wahl der Musik, das Buhnenbild und das Kostum machen das Kolorit aus.“16
Die Leinwand des Malers, also die Darstellung eines einzigen Augenblicks, wird bei dieser Vorstellung durch den Tanz sozusagen in malerischen Augenblicken verlebendigt. Das Ballet d‘Actlon erscheint ergo in einer Ordnung der Sichtbarkeit, bei dem sich der choreographierte Korper in einer Spannung zwischen Geste und Buhne beziehungsweise zwischen Sprache und Bild bewegt.
Dieses aufstrebende Illusionstheater, dass durch seine expressive Asthetik spater auch als „Ausdruckstanz des 18. Jahrhunderts“17 charakterisiert wurde, hatte sich an die Herzen des Publikums zu richten. Der „Strudel aufeinander einsturmender Gefuhlslagen“,18 ebenso Sinnbild fur das tableau vivant („lebendes Bild“), sollte die Zuschauer/innen „gefangen nehmen“,19 sie emotional beruhren und insofem uberzeugen, dass sie sich mit der jeweiligen Szene identifizieren vermochten. Das Gelingen dieser asthetischen Wirksamkeit verlangte eine vielseitige Bildung: Die Tanzenden integrierten fur ihre Umsetzung unter anderem Kenntnisse aus der Malerei und Lyrik.20 Das Publikum wurde wiederum herausgefordert, diese „Art der beredeten stummen Poesie“21 zu entschlusseln.
Als singulare Figur konnte die pantomimische Tanzkunst zwar weder Handlungs- zusammenhange noch zeitliche Korrespondenzen szenographisch vermitteln. Das Ballet d‘Actlon gait dennoch durch seine allgemein verbindliche Sprache der Gesten als neue Kunstform des aufbluhenden Burgertums, das sich im 18. Jahrhundert loyal und zugleich rebellisch gegen die hofischen Verhaltensregeln, konkret: die bislang ublichen Abfolgen von Buhnendarbietungen stellte. Wie sich derartige Reformideen bis weit ins 19. Jahrhundert, das heiEt mit der Herausbildung und zur Blutezeit des Romantischen Balletts weiterentwickelten und welche Merkmale den Diskurs des Romantischen bis heute pragen, wird im nachsten Passus dargelegt.
[...]
1 Dies sowie weitere Narrative sind das Ergebnis meiner Auffuhrungsanalyse des Ballettstucks La Bayadere. Es handelt sich um Konstruktionen aus Forschungsnotizen, Protokolleintragen und Bildmaterial. Die unterschiedlichen Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand habe ich bewusst gewahlt, da sich verschiedene Datentypen wechselseitig erganzen konnen und sich Prozesse - im Sinne von Clifford Geertz - somit dicht beschreiben lassen. Vgl.: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beitrage zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983.
2 Kursiv gesetzt werden in dieser Arbeit fremdsprachige Begiiffe, Hervorhebungen, Titel von Auffuhrungen sowie literarische Werke. Neben der Erstnennung von fremdsprachigen Begiiffen wird die jeweilige Ubersetzung gestellt.
3 Siehe: Novalis: Fragmente und Studien 1797-1798, in: Schulz: Novalis Werke, S. 384f.
4 Siehe: Brandstetter: ,Geisterreich‘. Raume des romantischen Balletts, S. 179.
5 Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft. Eine Einfuhrung in die Grundlagen des Faches, S. 70.
6 Siehe: Weickmann: Der dressierte Leib, S. 188.
7 Siehe: Schroedter: Vom ,Affect‘zur ,Action‘, S. 10.
8 Siehe: Ebd. und Nye: Mime, Music and Drama on the Eighteenth-Century Stage, S. 229.
9 Siehe: Schroedter: Vom ,Affect‘zur ,Action‘, S. 11.
10 Siehe: Huschka: Szenisches Wissen im balleten action, S. 40.
11 Huschka: Szenisches Wissen im balleten action, S. 35.
12 „[T]he writings of certain choreographers or theorists have been over-used, notably Noverre's Lettres sur la Danse and Cahusac's La Danse Ancienne et Moderne. Both have received disproportionate attention in modem criticism. [...] Even though Noverre's book was a landmark in many ways, it needs to be interpreted alongside other contemporary material, notably the writings of his rival Gasparo Angiolini and, most importantly, the profusion of writing by spectators in books, periodicals, journals, and private letters all over Europe.“ Aufgrund des Umfanges kann in dieser Arbeit auf den Vorschlag von Nye leider nicht eingegangen werden. Es soil auf seine Forschung verwiesen werden, in dem er diesen Ansatz selbst umgesetzt hat: Nye, Edward: Mime, Music and Drama on the Eighteenth-Century Stage. The Ballet d‘Action, hier: S. 5.
13 Noverre: Briefe uber die Tanzkunst, S. 20.
14 Siehe: Huschka: Szenisches Wissen im balleten action, S. 36.
15 Noverre: Briefe uber die Tanzkunst, S. 36.
16 Ebd., S. 15.
17 Siehe: Nye: Mime, Music and Drama on the Eighteenth-Century Stage, S. 230.
18 Huschka: Szenisches Wissen im balleten action, S. 51.
19 Noverre: Briefe uber die Tanzkunst, S. 22.
20 Siehe: Ebd., S. 41.
21 Cahusac in: Huschka: Szenisches Wissen im balleten action, S. 49.