Das Gutachten basiert auf dem öffentlichen Interview mit Armin Meiwes aus dem Jahre 2013. Es umfasst folgende Gesichtspunkte: Zusammenfassende Aktenauswertung; Anlasstat; Tatumstände; Urteilsgründe; Strafrechtliche Vorbelastungen; Auswertung der Ermittlungsakten; Biografische Entwicklung und soziale Bezüge bis zur Inhaftierung; Vollzugliche Entwicklung; Frühere psychologische/psychiatrische Gutachten und Stellungnahmen; Eigene Untersuchungsergebnisse; Explorationsgespräch; Testpsychologische Untersuchungen; Psychischer Befund und Verhaltensbeobachtung; Beurteilung; Bewertung der prädeliktischen Entwicklung; Bewertung der postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung; Psychotherapeutische Behandlung; Einschätzung der Prognose; Abschließendes Votum und Empfehlungen; Votum; Empfehlungen.
Herr M. wurde zunächst vom Landgericht Kassel am 30.01.2004 zu achteinhalb Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt. Das Urteil wurde nach rechtlicher Überprüfung aufgehoben und beginnend am 12.01.2006 neu verhandelt. Die Neuverhandlung des Landgerichts Frankfurt am Main ergab am 09.05.2006 die Verurteilung des Herrn M. zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes in Tateinheit mit Störung der Totenruhe. Er befindet sich seit dem 10.12.2002 in Haft, so dass eine Entlassung frühestens am 10.12.2017 möglich ist. Die psychologische Zuständigkeit ergab sich in diesem Zusammenhang aus der Notwendigkeit der Überprüfung der Sozialprogose.
Inhaltsverzeichnis
1. Zusammenfassende Aktenauswertung
1.1 Anlasstat
1.1.1 Tatumstände
1.1.2 Urteilsgründe
1.1.3 Strafrechtliche Vorbelastungen
1.1.4 Auswertung der Ermittlungsakten
1.2 Biografische Entwicklung und soziale Bezüge bis zur Inhaftierung
1.3 Vollzugliche Entwicklung
1.4 Frühere psychologische/psychiatrische Gutachten und Stellungnahmen
2. Eigene Untersuchungsergebnisse
2.1 Explorationsgespräch
2.1 Testpsychologische Untersuchungen
2.2 Psychischer Befund und Verhaltensbeobachtung
3. Beurteilung
3.1 Bewertung der prädeliktischen Entwicklung
3.2 Bewertung der postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung
3.2.1 Psychotherapeutische Behandlung:
3.3 Einschätzung der Prognose
4. Abschließendes Votum und Empfehlungen
4.1 Votum
4.2 Empfehlungen
II Literaturverzeichnis
1. Zusammenfassende Aktenauswertung
1.1 Anlasstat
1.1.1 Tatumstände
In einer Anzeige in einem Internetforum mit Themenbezug zum Kannibalismus bot Herr B. an, sich „bei lebendigem Leib verspeisen“ zu lassen. Herr M. reagierte auf diese Anzeige, woraufhin sie in regelmäßigem Kontakt Fantasien austauschten und sich am 09.03.2001 zur Umsetzung dieser trafen. Nach einvernehmlichem Geschlechtsverkehr warteten Sie aufgrund der Hemmungen des Herrn M. Herrn B. Schmerzen zuzufügen die Müdigkeit des Opfers ab. Nach Ausbleiben der Müdigkeit wollte Herr B. den Plan abbrechen und abreisen. Am Bahnhof angekommen entschlossen sie sich jedoch, Herrn B. zur Förderung seiner Müdigkeit Medikamente in einer Apotheke zu besorgen. Wieder angekommen im Haus des Herrn M. trennte er nach starkem Drängen des Herrn B. dessen Geschlechtsteil mit einem Messer ab, welches Herr B. vergeblich zu verzehren versuchte. Herr B. wurde aufgrund des Blutverlusts zunächst zeitweise und gegen 2.30 Uhr endgültig bewusstlos. Dann stach Herr M. ihn in einem hierfür funktional vorbereiteten Raum nach einigem Zögern, Beten und Küssen auf den Mund mit dem Messer in den Hals und zerlegte den Körper sachkundig. Herr M. nahm die Tat mit einer Kamera auf. Die Körperteile bewahrte er zum Teil in der Kühltruhe auf, die anderen Teile beerdigte er in feierlichem Rahmen in seinem Garten. Die Knochen vergrub er unweit davon. Das Fleisch verzehrte er zu gewöhnlichen Mahlzeiten.
1.1.2 Urteilsgründe
Zu Lasten des Herrn M. wurde berücksichtigt, dass das Tötungsverlangen des Opfers für ihn nicht handlungsleitend war – es bestand lediglich eine Einwilligung des Opfers. Außerdem wurde das Mordmerkmal der Ermöglichung einer anderen Straftat festgestellt: Der Angeklagte nahm am Körper des Täters „beschimpfenden Unfug“ vor in Form von der Zerlegung des Körpers, dem Filmen dieser Handlung sowie auch dem Verzehren von Körperteilen. Ferner sah das Gericht das Mordmerkmal der Befriedigung des Geschlechtstriebs durch die Videoaufnahme der Tat zur späteren sexuellen Befriedigung erfüllt.
1.1.3 Strafrechtliche Vorbelastungen
Herr M. ist strafrechtlich nicht vorbelastet.
1.1.4 Auswertung der Ermittlungsakten
Aus den Ermittlungsakten geht die beurteilungsrelevante Information hervor, dass Herr M. sich die Videoaufnahme der Tat mehrmals zu seiner sexuellen Befriedigung ansah. Auch hat er nach der Tat in einschlägigen Chatforen nach einem neuen Opfer „zur Schlachtung“ gesucht und gegenüber Chatpartnern geäußert, dass diese ihm „den absoluten Kick“ gegeben habe.
1.2 Biografische Entwicklung und soziale Bezüge bis zur Inhaftierung
Aus der Einweisungsentschließung der Gefangenenpersonalakte gehen die im Folgenden dargelegten zentralen biographischen Angaben hervor.
Armin Meiwes ist ledig und hat keine Kinder. Er wurde am 01.12.1961 in Essen geboren und wuchs in einem Haus in Rotenburg-Wüstefeld auf, in dem er bis zu seiner Verhaftung wohnen blieb. Bis zum Tode seiner Mutter wohnte er dort gemeinsam mit ihr. Er war 12 Jahre lang bei der Bundeswehr als Zeitsoldat tätig und anschließend bis zu seiner Verhaftung als Computertechniker beschäftigt. Seine finanziellen Verhältnisse waren stabil. Er hat einen älteren Halbbruder, ein Sohn aus einer früheren Ehe seiner Mutter. Sein Vater verließ die Familie mit dem Halbbruder, als M. acht Jahre alt war. Herr M. ist bisexuell orientiert und war während seiner Zeit bei der Bundeswehr für kürzere Zeit mit einer Frau verlobt. In seiner Jugend pflegte Herr M. Kontakte zu Gleichaltrigen, im Erwachsenenalter lebte er eher zurückgezogen. Sein Freizeitverhalten war seit dem Tod der Mutter geprägt durch Kontakte über Chatforen mit dem Themenbezug zum Kannibalismus.
1.3 Vollzugliche Entwicklung
Herr M. befindet sich seit seiner Einweisung am 10.12.2002 in der JVA Kassel I. Er wird sowohl von den Gefangenen als auch von Abteilungsbeamten als freundlich, angepasst und hilfsbereit beschrieben; er halte sich stets an die Hausordnung.
Er arbeitet in der anstaltseigenen Wäscherei und nimmt regelmäßig an den Gottesdiensten teil. Sein Arbeitsverhalten und -Einsatz wird von Aufsichtspersonen und anderen Bediensteten als vorbildlich beschrieben.
Telefonkontakte bestanden anfangs unregelmäßig zu seinem Halbbruder. Dieser Kontakt ist mittlerweile auf Wunsch des Halbbruders abgebrochen. Besuchskontakte hat er nicht.
1.4 Frühere psychologische/psychiatrische Gutachten und Stellungnahmen
Das Gutachten im Rahmen des Strafverfahrens vom 28.09.2003 sowie ein psychiatrisches Gutachten vom 02.03.2016 im Rahmen seines Antrags auf Therapie bescheinigt Herrn M. sowohl eine Bindungsstörung in Form einer unsicher-distanzierten Bindungsrepräsentation als auch eine Störung der Sexualpräferenz in Bezug auf das Fleisch und die Zerlegung des Körpers in seinen Augen attraktiver männlicher Personen. Weitere Erkenntnisse gehen aus den Gutachten nicht hervor.
2. Eigene Untersuchungsergebnisse
2.1 Explorationsgespräch
Bezüglich seiner Entwicklung führt Herr M. an, dass sein Vater im September 1969 „aus heiterem Himmel“ seine Mutter verlassen habe. Er sei ohne sich zu verabschieden mit dem Halbbruder im Auto weggefahren. Seine „heile Welt“ sei in dem Moment „zerbrochen“, die beiden seien seine wichtigsten Bezugspersonen gewesen und er bezeichne sich selbst als „Papakind“. Auch habe seitdem immer ein „männlicher Pol gefehlt“. Seine Kindheit beschreibt er zwar insgesamt als glücklich, aufgrund der zuvor genannten Umstände aber als einsam. Einen weiteren Bruder habe er sich seit dem Fortgang des Vaters und des Bruders stets gewünscht.
Herr M. beschreibt die Beziehung zu seiner Mutter als positiv. Sie habe ihm immer Geschichten vorgelesen. Auf Nachfrage kann er keine benennen. Nach der Trennung seiner Eltern sei die Mutter alleine geblieben. Sie sei in jeder ihrer drei Ehen verlassen worden und nach der Trennung „zurückgezogen und eventuell verbittert“ gewesen.
Darüber hinaus ist Herr M. der Meinung, seine Mutter habe gewollt, dass er möglichst lange bei ihr bleibe und habe deshalb ernstere Freundschaften stets vergrault. Nach einem Sturz im Jahre 1996 sei seine Mutter bettlägerig geworden. Daraufhin habe er sie gepflegt, diese Zeit beschreibt Herr M. als nervenaufreibend. Im Alter von 77 Jahren sei seine Mutter an einem Herzinfarkt gestorben.
Herr M. gibt an, bisexuell zu sein. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr habe er mehrere Beziehungen zu Frauen geführt, es sei jedoch nie „die Richtige“ gewesen. Die Beziehung zu seiner ehemals Verlobten sei daran gescheitert, dass sie ihn „ganz für sich allein“ haben wollte.
Den Auslöser seiner Fantasien beschreibt Herr M. primär in einer Verfilmung der Geschichte des Robinson Crusoe. In dieser Verfilmung sei ein Toter verspeist worden, um Teil der Gemeinschaft zu bleiben. Als unterstützenden Auslöser nennt er die Hausschlachtungen in seiner Nachbarschaft, bei denen er die Vorbereitungen bemerkt habe. Er habe sich stets einen imaginären Bruder vorgestellt. Diese Imagination habe irgendwann nicht mehr gereicht, es musste „etwas fester sein, ein Teil von ihm werden“. Diese Fantasie habe sich seit seiner Pubertät auch mit seiner Sexualität vermengt, so dass er sich in seinen sexuellen Fantasien vorstellte, wie er Schulkameraden mit deren Einverständnis vergewaltigt, betäubt und tötet, aufhängt und ausweidet. Das Gefühl der inneren Leere sei in der Fantasie dadurch weggewesen.
Generell benennt Herr M. mehrere soziale Kontakte in seiner Jugend, auch veranstaltete er im „umgebauten Hobbykeller“ des Hauses in seiner Jugend „Partys“.
Im Internet habe er bezüglich seiner Fantasien verschiedene Geschichten heruntergeladen und sich zum Thema Kannibalismus informiert. Im Jahre 2000 habe er begonnen, in den Chatforen mit Themenbezug zum Kannibalismus zu chatten. In den Anzeigen der Chatforen habe er die „bizarrsten Vorstellungen, so dass man es eigentlich gar nicht glauben konnte“ entdeckt. In den Chats habe man sich „gegenseitig hochgeschaukelt und Blick auf die Realität verloren; so sehr hineingesteigert, dass das zur Normalität wird“. Neben den Chatkontakten hatte sich Herr M. auch bereits getroffen, um Fantasien auszutauschen und Schlachtszenen zu simulieren.
Bezüglich der Tat meint er „Gott hat nichts dagegen getan, dass er (B.) mir das antut“, Gott habe es zugelassen, dass die Wünsche von B. und ihm sich vereinigen konnten und Wirklichkeit werden konnten. Darüber hinaus ist Herr M. der Meinung, dass seine Tat „etwas Göttliches“ habe, er zieht Parallelen von seiner Tat sowohl zum Abendmahl als auch zur Kreuzigung Jesu.
Herr M. habe den Namen des Opfers erst kurz vor seinem Tode erfahren, und er wisse „einige Datumsangaben, die in seinem Leben wichtig waren“. Ihm sei es missfallen, Herrn B. Schmerzen zuzufügen. So habe er beim ersten sexuellen Kontakt davor zurückgeschreckt, Herrn B. so stark zu beißen, wie dieser es gewünscht habe. Auch habe er zunächst nur halbherzig versucht, Herrn B. seinen Penis abzuschneiden. Dies sei für ihn unangenehm und ekelhaft gewesen. Er habe ihn auf der Schlachtbank fixiert, damit er sich nicht verletze. Außerdem hätte er den Stich in den Hals von Herrn B. nicht durchführen können, wenn er nicht sicher gewesen wäre, dass dieser bereits tot sei.
Das Verspeisen sei ein Moment gewesen, den er sich „über 40 Jahre lang oder 30 Jahre lang herbeigesehnt und gewünscht“ habe. Er war der Meinung, dass „diese innere Bindung dann durch dieses Fleisch perfekt“ war. Der Tisch sei beim Verzehren mit Kerzen dekoriert gewesen.
Er ist außerdem der Ansicht, sein Strafmaß sei zu hoch, da es kein „Mord sein kann“. Er sei vom ersten Urteil enttäuscht und fände eine Freiheitsstrafe wegen „Tötung auf Verlangen sowie Störung der Totenruhe“ in Höhe von sechs bis sieben Jahren angebracht. Einerseits vertritt Herr M. die Meinung, dass man jemandem, der sterben wolle, auch die Möglichkeit geben müsse, dies durchführen zu lassen. Andererseits bezeichnet Herr M. seine Tat als „Fehler“: „Man muss mit der Fantasie umgehen können. Der Fehler war, dass ich die Fantasie umgesetzt habe“. Außerdem meint er, B. sei jetzt ein Teil von ihm, und das sei ein guter Gedanke.
Bezüglich einer Therapie gibt er an, hochmotiviert und therapiefähig zu sein „Ich will therapiert werden, brauche das, ich weiß das“. Bei einem Gespräch mit einem Anstaltspsychologen hätte er ein Gefühl der Befreiung erlebt – die Last, die sich in 30 Jahren auf seinen Schultern angesammelt hätte, wäre mit einem Mal weg gewesen. Er ist der Meinung, dass ein solches Gespräch die Tat verhindert hätte, denn „wenn man über Dinge spricht, braucht man die ja auch nicht machen“.
2.1 Testpsychologische Untersuchungen
Es wurden schizoide Persönlichkeitszüge u.a. in Form von starker Inanspruchnahme von Fantasien, der teils unangebrachten emotionalen Distanziertheit in vielen Abschnitten des Interviews (s. Punkt 2.2), dem Gefühl der inneren Leere und dem Mangel an engen Vertrauten/Freunden (im Erwachsenenalter) trotz des Wunsches nach inniger Bindung deutlich. Um diese Beobachtung testpsychologisch zu hinterfragen und weitere Persönlichkeitsstörungen auszuschließen, wurde das strukturierte klinische Interview (SKID II) durchgeführt. Dieses deutet ebenfalls (und ausschließlich) auf eine Akzentuierung der schizoiden Persönlichkeit hin (FB-Score 4 bei einem Cutoff von 4/7).
Die Bindungsstörung und Störung der Sexualpräferenz wurden bereits im Rahmen des Strafverfahrens und dieses Jahr erneut diagnostiziert (s. Punkt 1.4). Sie sind unbehandelt äußerst stabil (Briken, 2013; Brisch, 2009) und wurden im Explorationsgespräch deutlich (s. Punkt 3.1).
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