Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht hat die Trennung zwischen familialer und außerfamilialer Lernwelt festgeschrieben. Es wurde notwendig, sich mit den Zielen der Erziehung auseinander zu setzen. Disziplin, Gehorsam, Ordnungssinn waren zu dieser Zeit allgemein vertretene Erziehungsziele, dabei waren Strafen und auch körperliche Züchtigung anerkannte Erziehungsmethoden. Vieles hat sich seither gewandelt, Kinder sollen auf eine demokratische, technisierte, mobile und schnelllebige, aber auch heterogene und komplexe Gesellschaft vorbereitet werden. So wurde in den letzten Jahrzehnten heftig über das Wie und Wozu der Erziehung gestritten.
Fest steht, die Erziehung der Kinder ist keine leichte Angelegenheit. Dies und das Bewusstsein, in meiner Arbeit jederzeit mit jungen Menschen, ihren Eltern und den unterschiedlichsten Erziehungsmethoden konfrontiert zu sein, haben mein Interesse an dem Thema Pädagogik geweckt. Kinder sollen sich frei entfalten können, glücklich und zufrieden sein und zu selbständigen, freundlichen Menschen heranwachsen, die sich ihrer Grenzen bewusst sind. Bei dem antiautoritären Erziehungsgedanken wird davon ausgegangen, dass sich ein Kind ohne Erziehung am sinnvollsten entwickelt, dabei sollen Einflüsse von Außen so weit wie möglich auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Bei diesem Erziehungsstil steht also die Freiheit und Entwicklungsautonomie des Kindes im Vordergrund, Grenzen und Regeln werden dabei mehr oder weniger als entwicklungshemmend angesehen.
Da der Mythos Summerhill auch heute noch eine Faszination ausstrahlt, ist die Idee und die Motivation der Studienarbeit zu dem Thema Alexander S. Neill und seine freiheitlich, demokratische Erziehung entstanden. Sozialisation ist nicht nur das Heranführen in die Welt der Erwachsenen, sondern beinhaltet Selbstverantwortung, Sozialkompetenz und Selbständigkeit. Diese Fähigkeiten sind für die Soziale Arbeit von zentraler Bedeutung, denn sie unterstützen Lebenskompetenz und helfen dabei Bewältigungsstrategien aufzubauen.
Die vorliegende Arbeit beginnt mit der Entstehung der Reformpädagogik, danach bildet eine kurze Begriffsdefinition den Übergang zu der Übersicht der verschiedenen Ansätze. Das dritte Kapitel ist dem biographischen Hintergrund Alexander S. Neills gewidmet. Dabei wird großen Wert darauf gelegt zu zeigen, dass Neill schon Anfang der 20er Jahre im Zentrum der internationalen Reformbewegung tätig war und er die Reformschulen Englands aus eigener Anschauung kannte.
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
2 Reformpädagogik
2.1 Die Entstehung der Reformpädagogik
2.2 Begriffsdefinition
2.3 Die Ansätze
2.3.1 Arbeitsschule
2.3.2 Ästhetische Bildung
2.3.3 Turnen und Wandern
2.3.4 Innere Schulreform / Anschauungsunterricht
2.4 Eine Begriffliche Abgrenzung
3 A. S. Neills biographischer Hintergrund
3.1 Kindheit und Jugend
3.2 Schwierige Berufsfindung
3.3 Erste Reformversuche
3.4 Homer Lane
3.5 Plattform „Education of the New Era“
3.6 Hellerau und die Schulidee
3.7 Gründung von Summerhill
3.8 Wilhelm Reich
3.9 Nachkriegszeit
3.10 Späte Jahre
4 A. S. Neill und sein pädagogisches Konzept
4.1 Der radikale Ansatz einer freiheitlichen Erziehung
4.2 Ziele und Grundsätze
4.3 Selbstregulierung
4.4 Kindererziehung
4.4.1 Koedukation
4.4.2 Freiheit
4.5 Sexualität, Moral und Religion
5 Fazit
6 Persönliche Stellungnahme
Literaturverzeichnis
Anhang A
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Das Schulgebäude auf dem „Summer-Hill“ in Lyme Regis (Neill, 1995, S. 63)
1 Einleitung
Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht hat die Trennung zwischen familialer und außerfamilialer Lernwelt festgeschrieben. Es wurde notwendig, sich mit den Zielen der Erziehung auseinander zu setzen. Disziplin, Gehorsam, Ordnungssinn waren zu dieser Zeit allgemein vertretene Erziehungsziele, dabei waren Strafen und auch körperliche Züchtigung anerkannte Erziehungsmethoden. Vieles hat sich seither gewandelt, Kinder sollen auf eine demokratische, technisierte, mobile und schnelllebige, aber auch heterogene und komplexe Gesellschaft vorbereitet werden. So wurde in den letzten Jahrzehnten heftig über das Wie und Wozu der Erziehung gestritten. Fest steht, die Erziehung der Kinder ist keine leichte Angelegenheit. Dies und das Bewusstsein, in meiner Arbeit jederzeit mit jungen Menschen, ihren Eltern und den unterschiedlichsten Erziehungsmethoden konfrontiert zu sein, haben mein Interesse an dem Thema Pädagogik geweckt. Kinder sollen sich frei entfalten können, glücklich und zufrieden sein und zu selbständigen, freundlichen Menschen heranwachsen, die sich ihrer Grenzen bewusst sind. Bei dem antiautoritären Erziehungsgedanken wird davon ausgegangen, dass sich ein Kind ohne Erziehung am sinnvollsten entwickelt, dabei sollen Einflüsse von Außen so weit wie möglich auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Bei diesem Erziehungsstil steht also die Freiheit und Entwicklungsautonomie des Kindes im Vordergrund, Grenzen und Regeln werden dabei mehr oder weniger als entwicklungshemmend angesehen. Da der Mythos Summerhill auch heute noch eine Faszination ausstrahlt, ist die Idee und die Motivation der Studienarbeit zu dem Thema Alexander S. Neill und seine freiheitlich, demokratische Erziehung entstanden. Sozialisation ist nicht nur das Heranführen in die Welt der Erwachsenen, sondern beinhaltet Selbstverantwortung, Sozialkompetenz und Selbständigkeit. Diese Fähigkeiten sind für die Soziale Arbeit von zentraler Bedeutung, denn sie unterstützen Lebenskompetenz und helfen dabei Bewältigungsstrategien aufzubauen. Die vorliegende Arbeit beginnt mit der Entstehung der Reformpädagogik, danach bildet eine kurze Begriffsdefinition den Übergang zu der Übersicht der verschiedenen Ansätze. Das dritte Kapitel ist dem biographischen Hintergrund von Alexander S. Neill gewidmet. Dabei wird großen Wert darauf gelegt, zu zeigen, dass Neill schon Anfang der 20er Jahre im Zentrum der internationalen Reformbewegung tätig war und er die Reformschulen Englands aus eigener Anschauung kannte. Von seinen ersten pädagogischen Veröffentlichungen 1915 bis zu seinem Tod 1972 war es immer derselbe zentrale Punkt, an dem Neill sich mit fast allen anderen Pädagogen überwarf. Es ging ihm stets um die radikale Verteidigung von persönlicher Freiheit, Gleichheit und gemeinschaftlicher Selbstbestimmung gegen normative Ansprüche von Autorität. Im Gegensatz zu fast allen anderen Pädagogen wollte Neill die üblicherweise als selbstverständlich und notwendig akzeptierten subtilen, sanften Formen der Freiheitsbeschränkung nicht akzeptieren. Seine Ansichten widersprachen radikal dem Alltagsverständnis und erschienen als Auf-den-Kopf-Stellen der Verhältnisse. Damit stellte er die grundlegende gesellschaftliche Frage nach Autorität, Macht, Strafbefugnis und Gewalt neu. Neills Lebenslauf weist ihn aus als aktiven Sozialisten und bedeutenden Reformpädagogen und seine Pädagogik gilt weithin als Erziehung ohne Grenzen. Im vierten Kapitel werden die Hauptmerkmale Summerhills – und damit Neills pädagogisches Konzept – aufgezeigt. Zentrale Themen wie Selbstregierung, Freiheit des Schulbesuchs, sowie Neills Betonung von Freizeit, Emotionalität und Kreativität werden erläutert. Seine Kindererziehung in Form von Koedukation, seine Moralvorstellungen und sein Bezug zur Sexualität sind weitere Punkte in diesem Kapitel. Auch Neills Bezug zur Religion ist ein wichtiger Punkt in seinem Konzept, denn in Summerhill wird auf ethische und religiöse Unterweisung verzichtet. Sein Erziehungskonzept wurde wesentlich von Rousseaus Erziehungslehre sowie Sigmund Freuds Psychoanalyse beeinflusst. In diese Arbeit soll aufgezeigt werden, dass Neill, obwohl er Erziehung im Sinne gezielter Formung ablehnte, doch auf anderen Wegen und mit ganz anderen Mitteln letztlich eine Art Ausgleich schaffte. Die radikale Selbstregierung wird als eine indirekte, Struktur bauende pädagogische Methode beschrieben, bei der die Erzieher keine Erziehungsmaßnahmen ergreifen und scheinbar untätig sind. Die Erzieher belehren nicht, aber sie fördern systematisch das selbstständige Lernen. Auch Werte werden nicht gelehrt, sind aber in die Heimstruktur eingebaut. Im fünften Kapital wird die Arbeit resümierend zusammengefasst und der Bezug zur Sozialen Arbeit hergestellt. Als Abschluss dieser Arbeit möchte ich eine kurze persönliche Stellungnahme abgeben. Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich mich durchgängig für die Nennung der männlichen Form entschieden, es sind selbstverständlich immer beide Formen gemeint.
2 Reformpädagogik
2.1 Die Entstehung der Reformpädagogik
Das Wort Erziehung wird aus heutiger Sicht als befremdlich, ja sogar inhuman angesehen, denn das Kind galt als rechtloses, naives und belastetes Wesen mit defizitären Wesensmerkmalen. So lag die hauptsächliche Aufgabe des Erziehers darin, das Kind durch Zucht, Disziplin, Autoritätshörigkeit und Willensbrechung zu „erziehen“. Bereits im achtzehnten Jahrhundert wurden fortschrittliche Ideen der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Demokratie laut, diese Gedanken fingen auf dem Gebiet der Erziehung aber erst im zwanzigsten Jahrhundert an, Früchte zu tragen (vgl. Neill, 2009, S.11). Im Zeitalter der Aufklärung kam es zunehmend zu Prozessen des Umdenkens. Allen voraus forderte Immanuel Kant, dass ein Kind nicht andern Individuen zu unterwerfen sei. Die Alte Schule mit ihrer autoritären Struktur wurde in Frage gestellt und neues Wissen hob die damaligen Weltbilder aus den Angeln. Im neunzehnten Jahrhundert entstand eine Reform, aus der ein modernes Schulsystem hervorging. Die Reform wurde durch einen epochalen Wandel ausgelöst und betraf zunehmend alle Lebensbereiche. Neuartige Technologien und ein grundlegender Strukturwandel bewirkten eine Modernisierung der Gesellschaft. Industrialisierung, Rationalisierung der Ökonomie, einsetzende Konsumorientierung und effektive Warendistribution hatten das Ziel, die Wirtschaft zu einem unbeschränkten Wachstum anzukurbeln. Im Bildungsbereich wurden Investitionen getätigt, denn dieser Bereich wurde zunehmend als Modernisierungsfaktor angesehen (vgl. Oelkers, 2005, S. 29). Es gab neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch die Pädagogik, die Soziologie, die Psychologie und die Kulturanthropologie machten vollkommen neue Entdeckungen (vgl. Wißkirchen, 1996, S. 9f.). Neben den Strömen der Lebensreformbewegung setzte eine fruchtbare Phase humaner Erziehung und neuer Formen der Schule ein. Beispielhafte Vertreter der Reformpädagogik sind:
- Maria Montessori (1870 - 1952)
- Rudolf Steiner (1861 - 1925)
- Alexander S. Neill (1883 - 1873)
- Janusz Korczak (1878 - 1942)
2.2 Begriffsdefinition
Der Begriff der Reformpädagogik, welche sich in den Zeitraum von ca. 1895-1933 einreihen lässt, umfasst eine Fülle verschiedener Ansätze, die z. T. ihren ganz eigenen weltanschaulichen Hintergrund mitgebracht haben und die Schule, den Unterricht und allgemein die Erziehung reformiert haben. Es handelte sich dabei um eine fortschrittliche Erziehungsbewegung verschiedenster und theoretisch uneinheitlicher Strömungen, welche auf eine neue gesellschaftliche Situation reagieren musste (vgl. Oelkers, 2005, S. 23). Einig waren sich die Reformpädagogen in der Ablehnung der traditionellen Schule als eine Zwangs-Lern-Anstalt. Aus jener Zeit sind Karikaturen bezeichnend, die den Lehrer als einen verknöcherten, menschlich unzugänglichen Unterweisenden zeigen, der mit dem Holzstock den Unterricht führte und nur auf äußerste Disziplin und Vermittlung des Lernstoffes bedacht war. Hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und ihrer Bedeutung gilt die Reformpädagogik als umstritten (vgl. Skiera, 2010, S. 1). Für diese Zeit war charakteristisch, dass man sich vermehrt mit Weltanschauung und Lebensfragen beschäftigte, dabei bezogen sich die Reformpädagogen u. a. auf die Theorien von Jean-Jacques Rousseau und Johann H. Pestalozzi. Die Reformpädagogik ist ein Kind der Moderne mit Bezug auf die eigene Tradition (vgl. Oelkers, 2005, S. 24). Mit ihrem Fortschrittsgedanken reflektiert sie die Hoffnung auf einen besseren Weltzustand, sie steht in einem dynamischen Zusammenhang mit weiteren sozialen Bewegungen der Jahrhundertwende (vgl. Skiera, 2010, S. 21). Sie will das Leiden endlich bekämpfen, ein angstfreies Lernen ermöglichen und die Lebensfremdheit und die autoritative Fremdbestimmung der damaligen Alten Schule bekämpfen (vgl. Skiera, 2010, S. 20). Die alte und die neue Erziehung unterscheiden sich nicht historisch, sondern moralisch. Um gut und böse zu unterscheiden und um den Zusammenhang mit der Reformsituation der Gegenwart herstellen zu können, ist jedoch der historische Kontext und die Vorläufertradition unerlässlich (vgl. Oekers, 2005, S. 24). Als Hauptmotiv der Reformpädagogik steht der Glaube an die eigenen Möglichkeiten.
2.3 Die Ansätze
Aus einer liberalen Grundeinstellung mit sozialem Engagement heraus forderten die Reformpädagogen die neue, freie Schule, in der das Kind im Mittelpunkt des erzieherischen Denkens und Handelns stehen sollte. Das Prinzip der Selbsttätigkeit ist bei allen Reformpädagogen zu finden (vgl. Skiera, 2010, S. 17). Unter Berücksichtigung neuester psychologischer Kenntnisse sollten Erziehung und bestmögliche Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder den Unterricht bestimmen. Die Schule sollte zu einer lebensnahen Gemeinschaft werden, in der die Kinder aktiv werden können und so durch selbsttätiges Lernen zu eigenverantwortlichen, toleranten und verantwortungsbewussten Mitgliedern der Gesellschaft werden. Es ergaben sich folgende Motivbündel:
2.3.1 Arbeitsschule
Ein zentrales Motiv der Schul- und Erziehungsreform ist Arbeit, dies wurde vor allem nach 1918 mit dem Konzept der Arbeitsschule verbunden. Im Gegensatz zu den vorherrschenden Paukanstalten der passiven Lern- und Buchschulen entwickelten sich Arbeitsschulen, die praktische Tätigkeiten in den Mittelpunkt stellten und so als Vorbild für einen handlungsorientierten Unterricht dienten. Sie sahen das Lernen als aktiven Vorgang der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten (vgl. Oelkers, 2005, S. 41).
2.3.2 Ästhetische Bildung
Die Bewegung der Kunsterzieher wurde durch die Kritik am geometrischen Zeichnen stimuliert. Das Reformmotiv wurde mit der Psychologie des Kindes verknüpft. Dadurch wurde die Kreativität betont und auf Formabsichten wurde auch im künstlerischen Zeichnen verzichtet. Die Würde des Kindes wurde ebenfalls thematisiert und sollte in jeder Erziehung und in jedem Unterricht beachtet werden (vgl. Oelkers, 2005, S. 45f).
2.3.3 Turnen und Wandern
Auch dabei war wiederum das Hauptmotiv die Kritik der Einseitigkeit der schulischen Bildung. Körpererziehung sollte vor allem durch Turnkunst erreicht werden. Die dadurch erzielte wahre Leibhaftigkeit sollte den Gegenpol zu einer einseitigen Vergeistigung darstellen und die verloren gegangene Gleichmäßigkeit der Bildung wiederherstellen. Auch hier sollte die ganzheitliche Lerngestaltung im Mittelpunkt stehen (vgl. Oelkers, 2005, S. 47). Dabei war es naheliegend, die Idee der Leibesübungen mit Schulreisen und Wanderungen zu verbinden. Es ließ sich psychologisch gut begründen, dass Wandern ein Erlebnis und kein Unterricht war und dass das freie Erleben an sich erziehen sollte (vgl. Oelkers, 2005, S. 49).
2.3.4 Innere Schulreform / Anschauungsunterricht
Die innere Schulreform des 19. Jahrhunderts war vor allem die Reform der Unterrichtsmethode. Es wurde eine allumfassende Einheit des Lernens mit Einbeziehung der Psychologie des Schülers eingerichtet. Dadurch führte eine direkte Linie vom Anschauungsunterricht zu den Methoden des Erlebnisunterrichts. Die Anschauung war das Fundament des Denkens und Wissens und somit der Mittelpunkt eines jeden Unterrichts. Es war das zentrale Schlagwort des 19. Jahrhunderts um neue und alte Unterrichtsformen voneinander abzugrenzen (vgl. Oelkers, 2005, S. 49f). Mitte des 19. Jahrhunderts waren deutsche Reformschulen häufig private Realschulen, die Unterricht mit Arbeit verbinden sollten (vgl. Oelkers, 2005, S. 54). Dadurch konnte der Unterricht individualisiert werden und konnte der Entwicklung des Kindes folgen.
2.4 Eine Begriffliche Abgrenzung
Das große Ziel des neuen Menschen sollte über teils gewaltfrei und teils gewaltsame Erziehungskulturrevolution erreicht werden. Durch den Einfluss der Ziehväter Macuse, Horkheimer, Adorno, Reich und Neill entstand die Behauptung, der Mensch sein das Produkt einer total verfehlten Erziehung, das ein triebunterdrücktes, unfreies, manipuliertes und hass- und neiderfülltes Geschöpf hervorgebracht hat. Dies läutete die Geburtsstunde der politisch antiautoritären Erziehungswelle ein. Neill gilt landläufig als bedeutender Reformpädagoge. Seine Pädagogik ist von Erkenntnissen der Psychoanalyse beeinflusst und zu unterschiedlichen Zeiten wendet er unterschiedliche psychoanalytische Ansätze an, stellt aber gegen Ende seines Lebens fest, dass seine Pädagogik auch ohne diese Anteile Bestand habe. Sein Erziehungsideal ist geprägt von einem individualistischen, apolitischen und egozentrischen Weltbild, seine antiautoritäre Erziehung hebt das menschliche Glück bei gleichzeitiger Förderung individueller Freiheitsvorstellungen hervor und lehnt herkömmliche Autorität und Manipulation des Kindes ab (vgl. Wißkirchen, 1996, S. 26f.). In Deutschland gilt Neill als Begründer der antiautoritären Erziehung, besonders weil die deutsche Übersetzung seines bekanntesten Werkes unter dem irreführenden Titel Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung veröffentlicht wurde. Seine Arbeit wird teilweise auch mit der Antipädagogik in Verbindung gebracht. Von beiden Zuschreibungen hat er sich selbst distanziert und Neill selbst hat den Begriff selbstregulative Erziehung verwendet. Im Zusammenhang mit der 1968er Bewegung gab es zahlreiche Ansätze zur demokratischen Kindererziehung, die durch seine Arbeit beeinflusst wurden. Durch diese Erziehungsbewegung wurde anfangs der 1970er Jahre eine zweite Erziehungsrichtung aufgerüttelt. Sie wollte an den Grundlagen des kapitalistischen Systems wenig ändern, sondern wollte die junge Generation durch eine erlebnisvoll, sanfte Erziehung und motivierendem Engagement zu individueller Entfaltung der Leistungs- und Selbsterfahrung führen. Der demokratisch-partnerschaftliche Erziehungsstil war geboren (Wißkirchen, 1996, S.17f). Wie auch beim antiautoritären Erziehungsdogma wurde auch hier darauf abgezielt, einen selbstzufriedenen, sich individuell entwickelnden und emanzipierten Menschen zu schaffen. Doch es wurde dabei vergessen, das Kind zu fragen, ob der eingeschlagene Weg auch richtig und wünschenswert sei.
3 A. S. Neills biographischer Hintergrund
3.1 Kindheit und Jugend
Alexander Sutherland Neill wurde am 17. Oktober 1883 in Forfar, Schottland, als viertes von acht Kindern geboren. Sein Vater Georg war Schulleiter und seine Mutter Mary hatte ebenfalls eine Ausbildung zur Lehrerein absolviert, durfte aber als verheiratete Frau in Schottland nicht unterrichten. Neill wurde mit viereinhalb Jahren in der einklassigen Schule, in der sein Vater unterrichtete, eingeschult. Zu dieser Zeit war es üblich, Kinder mit Schlägen und harten Strafen zu disziplinieren. Da Neill als Sohn des Lehrers nicht als bevorzugt gelten sollte, wurde er besonders streng behandelt. Die Anstellung als Lehrer war im ländlichen Schottland des neunzehnten Jahrhunderts kein angesehener Beruf, deshalb war es nicht untypisch, dass die Situation eine Lehrerfamilie von Geldnot geprägt war. Trotz wirtschaftlich angespannter Lage fühlte sich ein Schulleiterehepaar zu den besseren Kreisen zugehörig. Vor allem Neills Mutter war bestrebt, ihren höheren sozialen Status in der durch den schottischen Calvinismus geprägten Gesellschaft zu demonstrieren und legte großen Wert auf das Auftreten und tadellose Kleidung der Familie (vgl. Kühn, 1995, S. 8f). Neills Verhältnis zu seinem Vater war sehr problematisch, dieser machte sich nichts aus ihm. Der Zwang und die Disziplin in der Schule wurden zu Hause durch Strenge ergänzt, indem die Kinder mit der Trillerpfeife daran erinnert wurden, dass sie Hausaufgaben machen mussten. Neill war das Unbegabteste der Kinder, er bezeichnete sich als das schwarze Schaf der Familie.
3.2 Schwierige Berufsfindung
Als Neill vierzehn Jahren alt war, starb die Großmutter, die im selben Haushalt gelebt hat und ihn zum Lieblingsenkel erwählt hatte. Gleichzeitig endete seine Schullaufbahn, denn er wurde nicht wie seine Geschwister auf eine weiterführende Schule geschickt. Er begann auf Anweisung seines Vaters als Schreibkraft zu arbeiten, denn er hatte das Talent einer schönen Schrift. Nach verschiedenen Ausbildungen, die er entweder auf Grund von Heimweh oder aus gesundheitlichen Gründen abbrach, begann er im Alter von 15 Jahren als „pupil teacher“ (Kühn, 1995, S.17) an der Schule seines Vaters. Zur damaligen Zeit war dieses Tutorensystem eine übliche Form der Lehrerausbildung. Nach vierjähriger Lehrzeit bekam er ein Lehrerdiplom und war nun Hilfslehrer. Da er die gängigen pädagogischen Vorgehensweisen ablehnte, konnte ihn diese Aufgabe nicht befriedigen. Von 1903 bis 1908 arbeitete Neill an unterschiedlichen schottischen Dorfschulen. Er entwickelte eine tiefe Abneigung gegen die üblichen harten Erziehungsmethoden, nahm selbst Privatunterricht, erlangte die Hochschulreife und beschloss, ein Studium aufzunehmen. Im Alter von 25 Jahren begann er an der Universität Edinburgh Agrarwissenschaften zu studieren (vgl. Kühn, 1995, S. 22). Dieses Studium brach er frühzeitig ab und wechselte zum Englischstudium, welches ihn fesselte. Neill las Marlowe, Congrave, Wells, Drydon, Shaw, Barrie, Spenser, Chaucer, Pope, Drydon, Shakespeare, Sheridan, Dr. Johnson und Keats. Darüber hinaus entdeckte er seine Liebe zu den gesellschaftskritischen Dramen von Henrik Ibsens, las Friedrich Nietsche und begeisterte sich für die Musik Richard Wagners. Er wandte sich sozialistischen Ideen zu und wurde Herausgeber des Magazins The Student. Er nahm rege am kulturellen Leben teil und schrieb infolge chronischer Geldknappheit Kurzgeschichten. Am 5. Juli 1912 absolvierte Neill sein Examen zum Master of Art mit einem guten Abschluss daraufhin lockte ihn die Journalistenlaufbahn. Anschließend arbeitete er ein Jahr als Redakteur an einer Enzyklopädie mit und ging nach London, wo er als künstlerischer Assistent des Piccadilly Magazines arbeitete (vgl. Kühn, 1995, S.27).
3.3 Erste Reformversuche
Nach Kriegausbruch wurde das Piccadilly Magazine aufgelöst. Am 15. Oktober 1914, nachdem Neill als untauglich für den Kriegsdienst eingestuft worden war, wurde er in Stellvertretung des an die Front gegangenen Rektors Leiter der Gretna Public School in Schottland (vgl. Kühn, 1995, S. 29). Seine Erfahrungen an dieser Schule führten ihn zum intellektuellen Wendepunkt. Bis dahin noch ein widerwillig angepasster Lehrer, entwickelte er nun neue Ideen in der Schulerziehung und begann seine eigene Vorstellung von Erziehung und Unterricht umzusetzen. Seit Neills eigener Kindheit hatte sich im schottischen Schulwesen wenig geändert und bald unterschied sich der Unterricht in Gretna Green erheblich von dem an anderen Schulen. Er lehnte den Lernzwang und das strafende System ab und legte mehr Wert auf Spiel und Freude. Seine Schüler konnten zum Beispiel den Unterricht verlassen, wenn sie es wollten. Die Schüler konnten sich auf ihre Lieblingsfächer konzentrieren und die weniger populären Fächer vernachlässigen. Einzelne Eltern seiner Schüler waren von dem Umsturz nicht begeistert und machten ihm gegenüber keinen Hehl aus ihrem Befremden. Durch einen Zeitungsartikel erfuhr Neill bereits damals von der Jaques-Dalcroze-Schule in Hellerau bei Dresden. (vgl. Kühn, 1995, S. 33f). Seine Zeit als Schulleiter in Gretna Green beschrieb er in seinem ersten Buch A Dominie's Log. Die Veröffentlichung 1915 stellte den Beginn seiner Karriere sowohl als Schriftsteller als auch als Reformpädagoge dar. Das Buch wurde ein Bestseller in Großbritannien, und Neill verfasste anschließend vier weitere Dominie -Bücher. 1916 meldete sich Neill als Freiwilliger zum Militär, er musste einrücken und durchlief unterschiedliche Stationen, hatte aber nie einen Fronteinsatz. Schließlich wurde er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes ehrenhaft aus dem Dienst entlassen und zog nach Schottland zurück (vgl. Kühn, 1995, S. 37).
3.4 Homer Lane
Neill machte sich Gedanken um eine Anstellung und bewarb sich beim amerikanischen Erzieher Homer Lane, dessen Besserungsanstalt für jugendliche Verbrecher er während der Zeit seiner Militärausbildung besucht hatte. Lane leitete die neu gegründete Erziehungseinrichtung Little Commonwealth. In wöchentlichen Zusammenkünften bestimmten ältere Kinder über das Geschick der Gemeinschaft und machten ihre eigenen Gesetze. Lane nannte diese Form der Verwaltung Self-government (vgl. Kühn, 1995, S. 39f). Er glaubte an das angeborene Gute in jedem Kind und wandte seine revolutionären therapeutischen Maßnahmen wie etwa psychoanalytisch motivierte paradoxe Sanktionen an. Neill hatte diese später auch verwendete, indem er zum Beispiel Schüler zum Einschlagen von Fensterscheiben ermutigte oder Diebe für ihre Straftaten nicht bestrafte sondern belohnte. Die Begegnung mit Lane war ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur eigenen Erziehungsgestaltung, Neill übernahm viele seiner Grundsätze. Als Neill nach dem Militärdienst bei Lane mitarbeiten wollte, musste er erfahren, dass dessen Experiment mit der Schließung des Little Commonwealth beendet worden war. So bewarb er sich an der von John Russell geleiteten King Alfred School, einer koedukative Reformschule im Londoner Stadtteil Hamstead. Nach Homer Lanes Beispiel führte er dort das Self-government ein. Als es zu Protesten innerhalb des Lehrerkollegiums bezüglich der teils turbulenten Selbstverwaltung in Neills Klasse kam, legte ihm Russell nahe, die Arbeit an dieser Schule zu beenden (vgl. Kühn, 1995, S. 41f).
3.5 Plattform „Education of the New Era“
Ab Frühjahr 1920 gab er gemeinsam mit Beatrice Ensor die Zeitschrift Education of the New Era heraus. Nun konnte er sich mit einer breiten Themenwahl beschäftigen und auf seinen Reisen unterschiedlichste Schulversuche in Großbritannien und auf dem Kontinent kennenlernen. Er übte mit seinen Beiträgen heftig Kritik am bestehenden Schulsystem. Während dieser Zeit lernte er die immer bekannter werdende Montessori-Pädagogik kennen, dessen Ansatz er als zu wissenschaftlich, zu ordentlich, zu didaktisch ablehnte. Er bezeichnete die Montessori-Welt zwar als wunderbar, aber als ein künstlicher Weg, der nichts Kreatives hat (vgl. Kühn, 1995, S. 49). Neills radikale Haltung, die er auf Vortragsreisen und durch Veröffentlichungen bekannt machte, entfachte viele Diskussionen und Kontroversen mit anderen Reformpädagogen.
3.6 Hellerau und die Schulidee
Während seiner Mitherausgeberschaft reiste Neill im August 1921 nach Dresden, wohin ihn Lilian Neustätter eingeladen hatte. Sie hatte damals gemeinsam mit Neill während der Tätigkeit an der King Alfred School eine Schulutopie entworfen. Für die New Era beschrieb er den Betrieb der Jaques-Dalcroze-Schule. Dort bekam Neill das Angebot, als Erweiterung der Rhythmik-Abteilung und der Neuen deutschen Schule eine internationale Schule nach seinem Vorbild zu gründen. Der 37 jährige Neill ergriff diese Gelegenheit und gründete mit all seinen Einkünften seine erste eigene Schule (vgl. Kühn, 1995, 52f). Lilian Neustätter, Neills Gastgeberin in Hellerau, übernahm die Organisation des Schulheims. Ihr Mann die Geschäftsführung der neu gebildeten Schule. Bereits in Hellerau legte er den Grundstein zu seiner Erziehungsform, dessen Elemente seinen Stil bis an sein Lebensende bestimmten. Er nahm die Form des Self-government wieder auf und versuchte sie im Rahmen der deutschen Schule zu integrieren. Das Interesse sollte rein aus dem Kind selbst kommen, weshalb der Unterricht jedem freigestellt wurde. Auch wandte er die paradoxen Strafen an und hielt mit besonders schwierigen Kindern Einzelsitzungen ab (vgl. Kühn, 1995, S. 54). In Hellerau entstand das vierte der Dominie-Bücher, A Dominie Abroad. Zu der Zeit bereitete sich Neill vor, Deutschland zu verlassen, denn in Sachsen brach 1923 die Revolution aus und die Neue deutsche Schule wurde gezwungen, ihren Betrieb einzustellen (vgl. Kühn, 1995, S. 59). Zusammen mit Lilian Neustätter machte er sich auf die Suche nach einem neuen Standort für die Schule und wurde auf dem Sonntagsberg in einem ehemaligen Kloster in Österreich fündig. Mit einzelnen Kindern musste er sich sehr intensiv beschäftigen. Dies überforderte ihn und er unterzog sich den psychoanalytischen Behandlungen des Wiener Analytikers Wilhelm Stekel. Mit ihm verband Neill bald eine Freundschaft. Da Neills Vorstellungen von Religionsunterricht nicht mit dem religiösen Umfeld übereinstimmte, untersagte die österreichische Schulbehörde den Schulbetrieb und die Schule musste erneut umziehen. Lilian Neustätter trennte sich von ihrem Mann und begleitete Neill im Sommer 1924 nach England (vgl. Kühn, 1995, S. 61f).
[...]