Im ersten Kapitel der Arbeit wird der literarturhistorische Kontext des Werkes skizziert und zum besseren Verständnis für den Leser auch in den ursprünglichen Text eingeführt. Anschließend werden die zentralen Thesen in Bezug auf Manns Autorintention in Ludwig Stockingers Aufsatz „Das Gesetz, die Schrift und die Dichtung. Thomas Manns Deutung des biblischen Moses.“ zusammengefasst. Im nachfolgenden analytischen Teil dieser Hausarbeit werden die Aussagen Stockingers kritisch betrachtet und mit Textstellen belegt. Dabei sollen u.a. die Fragen beantwortet werden, ob Gott in der Erzählung Manns existiert und welches Bild der Erzähler von ihm vermittelt. Inwieweit dieses Gottesbild auch Gewalt beinhaltet, wird schwerpunktweise untersucht.
Methodisch naheliegend ist dem Aufbau und der Fragestellung entsprechend eine gründliche Arbeit mit dem Primärtext, weshalb große Teile dieser Abhandlung sich direkt auf die Erzählung Thomas Manns beziehen werden.
Einhergehend mit einer Zusammenfassung wie „Das Gesetz“ im Hinblick auf die Autorintention – im Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Gott für die Begründung von Moral – interpretiert werden kann, wird im abschließenden Fazit kurz auf mögliche logische Probleme eingegangen, die durch das von Thomas Mann vermittelte Gottesbild entstehen.
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Theoretischer Hintergrund
1.1. Entstehung des Werkes und Hinführung zum Text
1.2. Autorintention Manns in „Das Gesetz“ nach Ludwig Stockinger
2. Analytischer Teil zum Gottesbild in „Das Gesetz“
2.1. Existenz und Darstellung Gottes
2.2. Mittel zur Universalisierung von Gott und Moral
2.3. Gott und Gewalt in „Das Gesetz“
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
0. Einleitung
„Während der Arbeit, oder vorher schon, hatte ich ihr den Titel ‚Das Gesetz‘ gegeben, womit nicht sowohl der Dekalog, als das Sittengesetz überhaupt, die menschliche Zivilisation selbst bezeichnet sein sollte.“[1]
Diese Aussage Thomas Manns verdeutlicht zu Beginn der vorliegenden Arbeit die Bedeutungsträchtigkeit der Themen, mit denen sich die Erzählung Manns und in Folge auch diese Arbeit auseinandersetzt. Es geht um nicht weniger als die Fragen nach Vorhandensein, Ursache und Bedeutung von Wert- und Moralvorstellungen im Hinblick auf ihre Grundlage im Bereich der Religion. Thomas Mann entnimmt den biblischen Bericht der Entstehung des Volkes Israel dem Bibelbuch „Exodus“ und schreibt die Geschichte in seiner Erzählung „Das Gesetz“ (1943) neu. Damit verfolgt er, wie im Eingangszitat ersichtlich, einen tieferen Sinn als reine Belletristik.
Der Erschließung des Zwecks dieses Werkes, also der Autorintention beim Verfassen, widmet sich diese Arbeit. Um der inhaltlichen Tiefe der Thematik einigermaßen gerecht zu werden, erfolgt eine Annäherung durch die Analyse der Gottesdarstellung in „Das Gesetz“. Denn wie im Titel angedeutet lässt sich die Frage nach Religion als Basis für eine universale Moral in der Frage zusammenfassen, ob Moral eine Begründung in Gott, oder zumindest in einer Vorstellung dessen, benötigt oder nicht.
Im ersten Kapitel der Arbeit wird der literarturhistorische Kontext des Werkes skizziert und zum besseren Verständnis für den Leser auch in den ursprünglichen Text eingeführt. Anschließend werden die zentralen Thesen in Bezug auf Manns Autorintention in Ludwig Stockingers Aufsatz „Das Gesetz, die Schrift und die Dichtung. Thomas Manns Deutung des biblischen Moses.“ zusammengefasst. Im nachfolgenden analytischen Teil dieser Hausarbeit werden die Aussagen Stockingers kritisch betrachtet und mit Textstellen belegt. Dabei sollen u.a. die Fragen beantwortet werden, ob Gott in der Erzählung Manns existiert und welches Bild der Erzähler von ihm vermittelt. Inwieweit dieses Gottesbild auch Gewalt beinhaltet, wird schwerpunktweise untersucht.
Methodisch naheliegend ist dem Aufbau und der Fragestellung entsprechend eine gründliche Arbeit mit dem Primärtext, weshalb große Teile dieser Abhandlung sich direkt auf die Erzählung Thomas Manns beziehen werden.
Einhergehend mit einer Zusammenfassung wie „Das Gesetz“ im Hinblick auf die Autorintention – im Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Gott für die Begründung von Moral – interpretiert werden kann, wird im abschließenden Fazit kurz auf mögliche logische Probleme eingegangen, die durch das von Thomas Mann vermittelte Gottesbild entstehen.
1. Theoretischer Hintergrund
1.1. Entstehung des Werkes und Hinführung zum Text
Thomas Mann, aufgrund seiner politischen Einstellung und seiner Ehe mit einer Frau jüdischer Abstammung[2] selbst Opfer des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland, beobachtete im amerikanischen Exil die Entwicklung Deutschlands unter Hitler. Er war entschlossen, „mit allen ihm zur Verfügung stehenden publizistischen Mitteln gegen Hitler-Deutschland Krieg zu führen“.[3] Dazu gehörten bis zum Ende des zweiten Weltkriegs u.a. 55 Radioansprachen an die deutsche Bevölkerung[4], aber auch schriftliche Werke wie z.B. „Das Gesetz“.
Dieses entstand 1943 kurz nach Abschluss seines vierten Joseph-Romans aus einem Auftrag heraus, eine Einleitung zu einem Buch in Form eines Essays zu verfassen.[5] Das Buch sollte den Titel „The Ten Commandments. Ten short novels of Hitlers war against the moral code.“ tragen und Beiträge von renommierten Autoren beinhalten.[6] Doch Mann – noch tief in der Materie seiner Joseph-Bände[7] – schrieb die erste der zehn Kurzgeschichten, die sich mit der Entstehung der Zehn Gebote, des Dekalogs, beschäftigte und im Deutschen den Titel „Das Gesetz“ trägt. Darin geht es als Antwort auf die Gräueltaten der NS-Regierung, die dem Herausgeber wie ein Feldzug gegen Wert- und Moralvorstellungen erschienen, um den Dekalog als Ursprung von Moral, da für Thomas Mann „die Kultur des Abendlandes ihren Ausgang“[8] beim Volk Israel und seiner Gesetzgebung nahm.
Mann beweist sich durch die aus der Bibel entnommenen Zitate als Bibelkenner, der in seiner Erzählung auf Stellen des Alten und Neuen Testaments zurückgreifen kann, was sich im Verlauf der Arbeit noch zeigen wird. Dass er sich sowohl in der Joseph-Tetralogie als auch in „Das Gesetz“ biblischer Begebenheiten bedient, offenbart seine Faszination für die heiligen Schriften von Juden und Christen.
Aus diesen Gründen kam Mann der Aufforderung des Verlegers gerne nach und verfasste eine Erzählung, bei der es ihm „[e]rnst mit dem Gegenstande“[9] war, auch wenn die Geschichte dies wegen ihrer stark ironischen Erzählweise im Stile Voltaires nicht auf den ersten Blick vermuten lässt.[10] Mann parodiert die Geschehnisse und verwendet dafür eine Sprache, die der biblischen Vorlage sehr nahe kommt.
Bevor sich diese Arbeit den Ursachen für die gewählte spotthafte Darstellung widmet, soll in Kürze auf Thomas Manns Verhältnis zu Glauben und Religion grundsätzlich eingegangen werden, um die Autorintention vor diesem Hintergrund noch besser nachvollziehen zu können.
Kurzke schreibt in der von ihm verfassten Biographie Thomas Manns:
Nicht Kirche, nicht Religion, nicht Glauben an Gott – was er sich zuschreibt, ist eine scheue Frömmigkeit, verstanden als suchende Freiheit, las Offenheit, Weichheit, Lebensbereitwilligkeit und Demut, als Versuch, Zweifeln und Irren. […] Er erkennt, daß seine ganze Richtung eigentlich ein zustimmendes Verhältnis zum Christentum verlangt. Er erkennt, daß er religiös sein will. Er weiß nur noch nicht, wie das gehen soll ohne Verrat an einer durch Nietzsches Schule gegangenen Intelligenz. Er wird weiter suchen, erst im Zauberberg, dann aber vor allem in dem großen biblischen Roman Joseph und seine Brüder, und er wird schließlich einen schmalen Pfad finden.[11] (Herv. Kurzke)
Auch Mann selbst äußert sich dazu, wer oder was Gott für ihn ist: „Was aber ist Gott? Ist er nicht die Allseitigkeit, das plastische Prinzip, die allwissende Gerechtigkeit, die umfassende Liebe? Der Glaube an Gott ist der Glaube an die Liebe, an das Leben und an die Kunst.“[12] Anhand dieser beiden Quellen wird deutlich, dass Thomas Mann bei aller Auseinandersetzung mit religionskritischen Philosophen und einer für einige Leser sicher blasphemisch erscheinenden Darstellung der biblischen Geschehnisse einen Sinn für die Werte und Vorteile hat, die Religion und Glaube für die abendländische Kultur mit sich bringen: „Sagt, was ihr wollt: das Christentum, diese Blüte des Judentums, bleibt einer der beiden Grundpfeiler, auf denen die abendländische Gesittung ruht […].“[13]
Dabei zeichnen den Schriftsteller, wie in seiner Äußerung über Gott erkennbar, vor allem der Glaube an das Leben, also humanistische Wertvorstellungen aus, für die auch das Buch „The Ten Commandments. Ten short novels of Hitlers war against the moral code.“ mit seiner Erzählung „Das Gesetz“ eintritt.
Dieses von humanistischen Gedanken gekennzeichnete Verhältnis zum Christentum ist der Grund für „seine späte und dauerhafte Hinwendung zur Unitarischen Kirche in den USA“.[14], an der er die undogmatische Herangehensweise an das Christentum schätzt und maßgeblich zu der Hinwendung der Unitarier zum Humanismus beiträgt.[15]
Die stark abgekürzte Darstellung[16] der Mann’schen Denkweise in Bezug auf Religion soll aufzeigen, dass es Thomas Mann weniger um ein umfassend biblische Lehren praktizierendes Christentum, sondern um ein dem Menschlichen verpflichtetes, humanistisches Christentum ging. Deshalb kann er auch problemlos biblische Texte nehmen, die immerhin bis heute für einige Juden und Christen irrtumsloses, inspiriertes Wort Gottes darstellen und sie umschreiben, weil für ihn die Absicht dieser Schriften erhalten bleibt bzw. er sie sogar universalisieren kann, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird.
1.2. Autorintention Manns in „Das Gesetz“ nach Ludwig Stockinger
Als Thomas Mann sich gegen „die blasphemische Schändung […], die diesem Grundgesetz des Menschenanstandes (Herv. P.S.) heute von den Mächten zugefügt wird“ im Rahmen der Aufsatzsammlung zur Wehr setzte und etwas zum „kurzgefasste[n] Sittengesetz der Humanität“ schrieb[17], sah er Stockinger zur Folge einige Probleme, die vor allen Dingen die Identifikation aller Menschen mit der Moral als mosaischer Tradition betrafen[18]. Die von Stockinger hervorgehobenen Probleme werden nun herausgearbeitet und erläutert.
Als erstes macht Stockinger darauf aufmerksam, dass aufgrund von „historisch-kritischer Bibelexegese in der Tradition der aufklärerischen Religionskritik“[19] viele Menschen der Moderne nicht mehr daran glauben, dass sich die Geschichten der Bibel wortwörtlich zugetragen haben. Das hat zur Folge, dass an den Gott, der sich in den biblischen Berichten vorstellt, in dieser Form auch nicht mehr geglaubt werden kann. Thomas Mann musste also eine Basis herstellen, von der aus beide Seiten die Notwendigkeit eines Moralgesetzes einsehen, auch wenn sie nicht von den biblischen Texten und Gottesoffenbarungen als Tatsachen ausgehen.
Als nächstes musste Thomas Mann damit umgehen, dass im traditionellen Denken nur die Juden das auserwählte Volk Gottes sind. Die Offenbarung Gottes bezog sich also nur auf eine Nation, sollte aber allgemein anwendbar sein. Mann musste also in seiner Erzählung beantworten, ob sich „der Gott Israels und sein Gesetz überhaupt universalisieren“[20] lassen.
Thomas Mann war sich auch bewusst, dass es für viele Leser der Bibel bzw. seiner Erzählung problematisch sein würde, derart viele Stellen zu finden, in denen Gewalt angewendet wird. Daraus resultieren Frage zur gerechtfertigten Anwendung von Gewalt.[21] Muss man Gewalt anwenden, um eine gewaltfreie Gesellschaft zu gründen? Wie soll die Einhaltung des Sittengesetzes ohne Gewalt funktionieren? Zugespitzt kann man fragen, ob man töten darf, damit weniger getötet wird, obwohl es moralisch falsch ist. Diese Frage beschäftigte die Alliierten beim Kampf gegen Hitler, wird bis heute vor jeder Krisenintervention aus humanitären Gründen neu diskutiert und musste auch von Thomas Mann in „Das Gesetz“ beantwortet werden.
2. Analytischer Teil zum Gottesbild in „Das Gesetz“
2.1. Existenz und Darstellung Gottes
Im zweiten Teil dieser Arbeit sollen nun die Probleme und ihre zugehörigen Antwortvorschläge von Ludwig Stockinger durch entsprechende Nachweise aus der Primärquelle widerlegt oder gestützt werden. Dabei erfolgt eine exemplarische Auswahl, da nicht alle Stellen im Detail aufgelistet und analysiert werden können.
Stockinger beginnt die Auflösung der von Mann umgangenen Probleme damit, dass er betont, Mann antworte als Dichter und könne so die Begebenheiten als fiktionale Erzählung neu niederschreiben, ohne dass sein Text der Lüge bezichtigt werden kann.[22] Thomas Mann mythologisiert absichtlich sehr deutlich, damit niemand wegen nicht vorhandenen Glaubens die Erzählung von sich weisen und die Lehren aus der Entstehung der Moral ablehnen kann.
Dafür ist es nötig, dass die in der Bibel beschriebenen Wunder auf andere Art und Weise erklärt werden, was Stockinger zusammenfassend auch tut,[23] und was durch viele weitere Bespiele wie das Manna oder die Nutzbarmachung des Wassers erweitert werden könnte. Doch er verzichtet größtenteils darauf, die vom Erzähler geschilderten Stellen, in denen Gott sich zeigt oder mit Mose kommuniziert, zu deuten, wodurch erkennbar werden würde, dass Mann im Grunde nicht offenlässt, ob es Gott zu Beginn des Sittengesetzes gibt oder nicht. Im Gegenteil lenkt er den Leser durch eingestreute Zweifel dahin, nicht von einer Existenz Gottes in der Geschichte auszugehen.
Schon zu Beginn legt der von Thomas Mann gewählte Erzähler den Schluss nahe, dass es sich bei Gott um eine Einbildung Moses handelt. So wird Gott im Leben Moses lediglich als ‚vergessenes Überbleibsel‘ des Götzenkultes eines anderen Volkes eingeführt, der gut zu den Ansichten Moses passt.[24] Durch den Satz „erschüttert von Eingebungen und Offenbarungen, die in einem gewissen Fall sogar sein Inneres verließen und als flammendes Außen-Gesicht, als wörtlich einschärfende Kundgebung […] seine Seele heimsuchten“ (S. 102, Herv. P.S.) wird schon im ersten Kapitel der Erzählung deutlich, dass unklar ist, ob es Gott gibt oder er Fiktion Moses ist.[25] Als Mose beginnt das Volk der Juden von seinen Erfahrungen und den Eigenschaften Gottes zu berichten, betont der Erzähler: „sondern hielt hinterm Berge mit mehrerem, was er [Mose – P.S.] meinte “ (S. 103, Herv. P.S.). Aus dieser Stelle lässt sich folgern, dass es sich nicht um den erklärten Wunsch oder die Absicht eines Gottes ging, sondern um Moses Ziel der Selbstverwirklichung. Als Mose dem Volk weiter die Pläne Gottes verkündigt, kommentiert der Erzähler: „so deutete er dem Gotte zu und trug in ihn hinein, was möglicherweise auch des Gottes war, zugleich aber mindestens auch sein Eigen“ (S. 103). Da der Leser bis zu dieser Stelle keine Anzeichen dafür hat, wer in der Erzählung Gott und was seine Rolle ist, wird er zu dem Schluss kommen, dass es nicht nur „mindestens“ das Eigen von Mose war, sondern gänzlich.
Im Verlauf der Erzählung versucht Mose mit seinen Gehilfen den Pharao zur Erlaubnis des Auszugs aus Ägypten zu bewegen, was mit Sanktionen für das Volk Israel einhergeht. Daraufhin hat Mose „schwere Stunden mit dem Gott des Dornbuschs unter vier Augen“ (S. 117). Es erfolgt allerdings nicht wie erwartet und im biblischen Original geschehen eine Antwort oder Offenbarung Gottes in direkt Rede, sondern Gott redet zu Mose aus „seinem [Moses – P.S.] Inneren“. Also wird auch an dieser Stelle der Leser die Kommunikation Moses mit Gott einer Einbildung zuschreiben.
Wenn der von Thomas Mann eingesetzte Erzähler doch eine Formulierung wählt, die den Schluss zulassen könnte, es gebe einen Gott, dann wird durch die Darstellung der Szene in ironischer Weise für den Leser doch das Gegenteil suggeriert. So erläutert der Erzähler nach dem Auszug des Volkes, dass das Rote Meer aufgrund von Wind- und anderen Natureinflüssen einen Durchgang bot. Danach fügt er „dank Jahwe’s begünstigender Fügung“ (S. 123) hinzu. Es erscheint an dieser Stelle äußerst ironisch, da der Erzähler unmittelbar zuvor erklärte, warum es ein glücklicher Umstand der Natur war, dass das Meer durchquert werden konnte. Für den Rezipienten wirkt es nahezu grotesk, dass bei allen Wundern auf die Beschreibung göttlichen Einfluss verzichtet wird, und gerade an dieser Stelle, als Gott aufgrund der vorangegangenen Erklärung der Naturereignisse gar nicht mehr gebraucht würde, ihm dieses Ereignis zugeschrieben wird. Diese Art der Darstellung kann auch so interpretiert werden, dass es für den Leser offensichtlich Zufall, für das Volk aber in der spezifischen Situation Gottes Eingreifen war. Zwischen den Zeilen lässt sich Gott, als etwas Überflüssiges dargestellt, erkennen. In eine ähnliche Richtung verläuft auch die Szene, als die „Schlacht von Kadesch mit Jahwe’s Hilfe gewonnen“ (S. 133) wird, da vorher ausführlich die Taktik Josuas beschrieben und ihr der Erfolg zugeschrieben wird.
Dahingehend lässt sich auch der Aspekt der Erzählung deuten, dass das Volk (S. 124 f.), Mirjam (S. 152) und am Ende sogar Aaron (S. 163) Mose für Gott halten und mit „Herr“ ansprechen. Mit Fortschreiten der Erzählung verschwimmen somit Mose und Gott zu einer Figur. Was am Anfang noch als mögliche Interpretation, abhängig vom Leser, gedeutet werden konnte, drängt sich mit dem Fortgang der Lektüre mehr und mehr auf: Gott ist lediglich eine von Mose gebrauchte Fiktion.
Äußerst sarkastisch wird außerdem vom angeblichen Gericht Gottes über Aaron und Mirjam gesprochen, als die Erde aufreißt[26], aber der Riss die beiden verfehlt (S. 152) und es ist dem Leser unterschwellig klar, dass es sich hierbei nur um einen Gott zugeschrieben Zufall oder sogar um dessen Unfähigkeit handelt. Dieses Gericht ist die Antwort darauf, dass Aaron und Mirjam die ausschließliche Erwählung Moses zum Werk Gottes großen Teil für Einbildung halten (S. 149).
Besonders deutlich wird kurz vor der Entstehung des Dekalogs, dass dem Erzähler unwichtig ist, wer oder was letztendlich für die Gebote ausschlaggebend war. Das ist daran ersichtlich, dass er berichtet: „So geschah es, oder doch ähnlich.“ (S. 154). Gegen Ende der Erzählung wird hier noch einmal konzentriert dargestellt, dass das Drumherum unbedeutend ist, wenn der Kern stimmt.
Es ließen sich noch viele weitere Beispiele dafür anführen, dass Stockingers These bezüglich seiner Autorintention mithilfe des Textes verifizierbar ist. Thomas Mann versucht durch seine Art erzählen zu lassen, aber vor allem durch den Erzählstoff, den Dekalog, durch die modernen Zweifel an der Existenz Gottes hindurch zu retten, indem Gott in „Das Gesetz“ nur als Fiktion existiert.
2.2. Mittel zur Universalisierung von Gott und Moral
Zur Lösung des zweiten möglichen Problems für den Leser, die ursprünglich national gebundene Offenbarung Gottes und Entstehung des Dekalogs, erläutert Stockinger, dass Mose aus diesem Grund in der Erzählung kein reiner Jude ist. Im engeren Sinne ist er sogar gar kein Jude, da im Judentum die Zugehörigkeit über die Mutter vererbt wird, die aber in der Erzählung eine Ägypterin ist.[27] So löst Thomas Mann nicht nur das Problem der nationalen Beschränkung, er liefert sogar ein Argument gegen die nationalsozialistischen Adressaten der Erzählung, da der Ursprung für die weitreichenden Folgen der Zehn Gebote in der Mischrasse und nicht in von den Nazis propagierter Reinrassigkeit lagen.[28]
Ein weiteres Moment zur Universalisierung des Sittengesetzes sieht Stockinger zustimmenswerter Weise in der Erfindung einer neuen Sprache im Zusammenhang mit der Niederschrift des Dekalogs. Er argumentiert, dass in der Erzählung diese Sprache entwickelt würde, damit alle Menschen das Gesetz in allen Sprachen der Welt lesen können.[29] Das geht aus dem Zitat „das Kurzgefaßte, von solcher Art, daß es als Grundweisung und Fels des Menschenanstandes dienen mochte unter den Völkern der Erde – allenthalben“ (S. 158) klar hervor.
Es gibt allerdings weitere Indizien für diese Interpretation zur Autorintention Manns, die Stockinger unterstützen, wenn auch in einem anderen Punkt widersprechen. Stockinger führt in seinen Aufsatz an, dass es „um ein Prinzip der Moral [ginge], das nach Auffassung Thomas Mann mit der Gesetzgebung des Moses in die Geschichte der Menschheit eingetreten ist“.[30] Warum schreibt der Erzähler in „Das Gesetz“ dann aber sowohl den Ursprung Jahwes, als auch den der mosaische Rechtsprechung unterschiedlichen nicht-jüdischen Völkern zu?[31] Wahrscheinlich will er deutlich machen, dass es zwar in der Überlieferung einen Zeitpunkt gab, an dem Wert- und Moralvorstellungen, Rechtsprechung, usw. begannen, in der abendländischen Kultur mit der Bibel, aber es diese nach Manns Überzeugung schon immer gab, sie möglicherweise im Menschen selbst liegen, wie Gott in Mose. Interessanterweise steht bei der Verschriftlichung der Zehn Gebote allerdings nichts dazu, woher Mose die Idee hatte. Möglicherweise scheut sich Thomas Mann davor, weil er dieser universalen Moral doch einen göttlichen Ursprung nicht absprechen will.
Außer diesen Argumenten sind weitere zahlreiche Hinweise auf die Universalität zu finden. So wird der Dekalog unter anderem auch „das A und O des Menschenbenehmens“ (S. 167) genannt, was unverkennbar dessen Gültigkeit für alle Menschen einschließt.[32]
Ein weiterer Schritt zur Universalisierung des Sittengesetzes gelingt Thomas Mann dadurch, dass er in seiner Erzählung auch Verse oder Begebenheiten verarbeitet, die in der Bibel gar nicht im Zusammenhang des Auszugs, der Wüstenwanderung und der Gesetzgebung des Volkes Israel zu finden sind. Er nutzt das Buch der Sprichwörter (24,17) als das Volk sich über den Untergang des ägyptischen Heeres freut[33], das Matthäusevangelium (13,5) als die Predigt Moses nicht auf steinigen Boden fällt, die Offenbarung (1,8) als er die Bedeutung von Moral unterstreicht, Genesis 8,21 als er das menschliche Herz beschreibt und vor allem vermischt er das Sittengesetz des Volkes mit Versen der Bergpredigt: „Darum liebe nicht dich allein, sondern liebe ihn gleicherweise und tue ihm, wie du wünschen würdest, daß er mit dir täte, wenn er du wäre! Seid lieblich miteinander […]“ (S. 146). Die Verwendung von Aussagen Jesu Christi an dieser Stelle macht deutlich, dass es Thomas Mann nicht darum geht, wo in der Bibel von wem etwas gesagt wurde, und ob es sich auf Juden oder Christen bezieht. Er möchte ausdrücken, dass religionsunabhängig für alle Menschen eine moralische Verpflichtung zum Humanen das bedeutende Element ist.
Stockinger ist also auch in diesem Punkt zuzustimmen, wie die nähere Analyse der Primärquelle zeigte.
2.3. Gott und Gewalt in „Das Gesetz“
Stockingers drittes angesprochenes Problem betrifft die Gewalt in „Das Gesetz“. Die Erklärung, die er ausmacht, ist, dass gewalttätige Handlungen zumeist Josua zugeschrieben werden und dieser sie für eine gute Sache einsetzt[34]. Gewalt in der Erzählung dient ausschließlich dem Zweck, ein ordnendes Sittengesetz zu etablieren, auch wenn das teilweise mit egoistischen Interessen einhergeht, die aber im Denken Thomas Manns immer unvermeidbar sind.[35] Stockinger deutet deshalb auch das Verbot zur Schadenfreude über den Untergang des Feindes dahingehend, dass der Erzähler Trauer über die Unvermeidbarkeit von Krieg und Gewalt empfindet.[36]
Diese Interpretation Stockingers ist verifizierbar, was besonders durch eine Auffälligkeit deutlich wird. Mehrfach findet sich in der Erzählung die Formulierung „Lust zum Blut“ (z.B. S. 103), womit die Leidenschaft Moses bzw. Gottes beschrieben wird, das Volk durch die Einführung des Sittengesetzes zu etwas Gutem zu formen. Allerdings wird diese „Lust zum Blut“ in der Erzählung mithilfe von Gewalt durchgesetzt. Insbesondere gegen Ende der Erzählung wird jedoch davon gesprochen, dass gerade durch die Missachtung des Dekalogs „Blut in Strömen“ fließen wird (S. 168). Möglicherweise eine Anspielung Manns auf den bevorstehenden Zweiten Weltkrieg,[37] wo unter Einsatz von massiver Gewalt die Missachtung sämtlicher Moral wiederhergestellt werden musste. Der Erzähler verflucht durch Mose jeden, der sich gegen das Sittengesetz wendet, und spricht davon, dass dieser Schurke gefällt werden müsse (S. 168). Mose hat Lust zum Blut, also Interesse daran es zu bewahren.
Durch die Erzählung wird deutlich, dass es Einsatz von Gewalt bedarf, um eine dauerhaft moralisch geordnete Gesellschaft zu gründen und zu bewahren.
3. Fazit
Nachdem zu Beginn der Arbeit die Hintergründe zur Entstehung der Erzählung „Das Gesetz“ beleuchtet und tiefere Einblicke in Thomas Manns Beziehung zu Glaube und Religion getan wurden, beschäftigte sich der Hauptteil der Arbeit in diesem Wissen mit der Autorintention Thomas Manns. Dabei wurde besonders auf die Gottesoffenbarungen im Primärtext eingegangen, um die Thesen Ludwigs Stockingers zu überprüfen.
Alle drei Thesen zu den Problemen der Glaubwürdigkeit der Existenz Gottes, der Universalisierbarkeit von Moral und der Gewalt im Zusammenhang mit Gott und dem Sittengesetz konnten verifiziert und mit Textstellen aus „Das Gesetz“ belegt werden. Im Folgenden werden diese kurz zusammengefasst, wobei die im Titel gestellte Frage „ Un sichtbar, und deshalb un nötig?“ Orientierung bietet.
Thomas Mann wählt in seiner Erzählung den unsichtbaren Gott der Bibel und lenkt den Leser zu der Annahme, dass Gott in „Das Gesetz“ nicht nur unsichtbar, sondern auch nicht existent ist. Der Grund dafür ist seine Aussageabsicht, dass es Gott zwar möglichweise gibt, diese Tatsache aber für eine universell gültige Moral nicht relevant, also unnötig, ist. So kann der Autor durch das Ausklammern Gottes in seiner Erzählung auch Menschen erreichen, die nicht an Gott und die Historizität der Bibel glauben. Er stellt dar, dass ein Moralgesetz für eine Gesellschaft unabdingbar und logisch ist, unabhängig von Gott.
Diese Ansicht unterstreicht auch Manns Privatleben, in dem er sich einer Freikirche zuwandte, die nicht dogmatisch an die Bibel gebunden ist, sich aber wohl dem Humanismus verpflichtet. Thomas Mann geht es nicht um die Religion, sondern um das, was er als ihren Kern ausmacht. Folgende Aussagen von ihm bestätigen dies abschließend: „I am a Protestant by birth and enducation. […] for it was Protestantism which for centuries determined German intellectual life and German culture.“[38] „Democracy, it seems to me, is nothing but the political name fort the ideals which Christianity brought into the world as religion.“[39]
Aus Platzgründen konnte die Analyse der Autorintention nur exemplarisch erfolgen und es musste eine Auswahl zentraler Textstellen erfolgen. Dies hat leider zur Folge, dass die letzte These Stockingers nur rudimentär erfolgen konnte, was eine Schwäche der Arbeit darstellt. Um eine intensivere Arbeit mit dem Primärtext zu ermöglichen, wurden nur begrenzt Veröffentlichungen anderer Autoren miteinbezogen, sodass hier eine Vertiefung lohnenswert erscheint. Zum Schluss bleiben neben zahlreichen weiteren Aspekten, die in der Erzählung auch überprüft hätten werden könne, noch einige Fragen an Thomas Manns vermittelter Sicht zum Ursprung von Moral offen, die zum Nachdenken und zu einer weiteren Beschäftigung anregen.
Aus Sicht der Logik ist es zumindest schwierig, von einer Entstehung von Moral auszugehen, bei der Gott irrelevant ist, da sich die westlichen, an Menschenrechten orientierten Wertmaßstäbe seit jeher aus ihrem Bezug zum Christen- bzw. Judentum gründen. Thomas Mann wendet sich mit seiner Erzählung gegen das nationalsozialistische Regime, in dem viele Menschen erfuhren, was eine Loslösung von der aus der Bibel bekannten Moral bedeutet. Möglicherweise wurde aus diesem Grund nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch ein Gottesbezug in der deutschen Verfassung verankert. Die Geschichte hatte schmerzlich gelehrt, was geschieht, wenn eine Gesellschaft keine bleibenden Wertmaßstäbe mehr hat, die außerhalb ihrer selbst feststehen. Es stellt sich die Frage, ob der Glaube an eine Existenz Gottes nicht nötig ist, um einen gleichbleibend sicheren Anker für die universell gültige Moral in menschlichen Gesellschaften zu haben.
4.Literaturverzeichnis
Detering, Heinrich: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil, Frankfurt am Main 2012.
Eifler, Margret: Thomas Mann. Das Groteske in drei Parodien, Bonn 1970.
Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999.
Mann, Thomas: Die Betrogene und andere Erzählungen, Frankfurt am Main 2005.
Mann, Thomas: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, Amsterdam 1949.
Stockinger, Ludwig: Das Gesetz, die Schrift und Dichtung. Thomas Manns Deutung des biblischen Moses. In: Universitätsvesper 14.04.2010, S. 1-5.
Vaget, Hans Rudolf: Thomans Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938-1952, Frankfurt am Main 2011.
Wollf, Hans W.: Thomas Mann. Werk und Bekenntnis, Bern 1957.
[...]
[1] Mann, Thomas: Die Entstehung des Doktor Faustus. S. 20.
[2] Vgl. Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, S. 211.
[3] Vaget, Hans Rudolf: Thomans Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938-1952, S. 63.
[4] Vgl. Thomas Mann, der Amerikaner, S. 66.
[5] Vgl. Die Entstehung des Doktor Faustus, S. 19.
[6] Vgl. Eifler, Margret: Thomas Mann. Das Groteske in drei Parodien, S. 28.
[7] Vgl. Die Entstehung des Doktor Faustus, S. 19.
[8] Wolff, Hans W.: Thomas Mann. Werk und Bekenntnis, S. 109.
[9] Thomas Mann. Das Groteske in drei Parodien, S. 28.
[10] Vgl. Thomas Mann. Das Groteske in drei Parodien, S. 28.
[11] Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, S. 266 f.
[12] Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, S. 266.
[13] Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, S. 442.
[14] Detering, Heinrich: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil, S. 7.
[15] Vgl. Thomas Manns amerikanische Religion, S. 189 f.
[16] Zur vertiefenden Information scheint das Buch „Thomas Manns amerikanische Religion“ sehr geeignet zu sein. Weitere Erklärungen zur Unitarischen Kirche und ihrer Bedeutung für Manns Leben sprengen in dieser Arbeit leider den Rahmen.
[17] Thomas Manns amerikanische Religion, S. 188.
[18] Vgl. Stockinger, Ludwig: Das Gesetz, die Schrift und Dichtung. Thomas Manns Deutung des biblischen Moses, S. 1.
[19] Stockinger, S.1 f.
[20] Stockinger, S. 2.
[21] Vgl. Stockinger, S.2.
[22] Vgl. Stockinger, S.2 f.
[23] Vgl. Stockinger, S.2
[24] Vgl. Mann, Thomas: Die Betrogene und andere Erzählungen, S. 101. Im weiteren Verlauf finden sich die Quellennachweise als Seitenzahlen, der einfachen Lesbarkeit halber, im Text.
[25] Zudem findet sich ein zweites Mal in der Erzählung, dass Gott Mose aus dessen Inneren antwortet, es also auch Mose selbst sein könnte (vgl. S. 148).
[26] Interessant ist, dass der Erzähler nicht versucht das ursprüngliche biblische Gericht (Aussatz) umzudeuten oder ohne Gottes Einfluss zu erklären, sondern das Gericht beschreibt, das in Numeri 16 der Rotte Korahs widerfährt.
[27] Vgl. Stockinger, S. 3.
[28] Vgl. Stockinger, S. 3.
[29] Vgl. Stockinger, S. 4.
[30] Stockinger, S. 1.
[31] Vgl. S. 101 (Jahwe midianitischer Gott), S. 136 (Rechtsprechung an Codex Hammurapi usw. angelehnt).
[32] Gleichzeitig drückt Mann mit der Verwendung von Alpha und Omega aus, einer Charakteristik mit der sich Jesus Christus beschreibt, dass auch das Christentum nichts anderes als universelle Moral zum Zentrum hat.
[33] Vgl. Stockinger, S. 5.
[34] Vgl. Stockinger, S. 4.
[35] Vgl. Stockinger, S. 4.
[36] Vgl. Stockinger, S. 5.
[37] Vgl. Stockinger, S. 4.
[38] Thomas Manns amerikanische Religion, S. 75.
[39] Thomas Manns amerikanische Religion, S. 77.