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Wissenschaftlicher Aufsatz, 2010
9 Seiten
Tiergestütztes Lernen im Bauernhof-Kindergarten
Inge A. Strunz
Die meisten Kindergärten beziehen Tiere nur zeitweise in Form sogenannter ‚Tiergestützter Aktivitäten‘, in ihren pädagogischen Alltag ein. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Besuch eines Zoos, eines Tierheims oder eines Bauernhofes ansteht, beziehungsweise im Rahmen von Projekten Tierhalter mit ihrem Tier/ihren Tieren für einige Stunden zu Gast sind (z.B. Besuchshundedienste, Vertreter der örtlichen Kleintierzuchtvereine etc.). Die Gründe, die gegen die Haltung eigener Tiere in vorschulischen Bildungseinrichtungen sprechen sind vielfältig, wie eine in Kindergärten ohne Tierhaltung durchgeführte Erhebung ergab (Strunz 2010[1] ). Häufig wurden folgende Einwände genannt: Ungünstige Rahmenbedingungen (z.B. Platzmangel), das Risiko der Krankheitsübertragung auf den Menschen, Allergien, die ablehnende Haltung von Migranteneltern, ein zu hoher Versorgungs- und Pflegeaufwand sowie die ungeklärte Frage der Betreuung der Tiere an Wochenenden und Ferientagen. Gleichwohl sehen die befragten Pädagogen den Wert, den selbst zeitlich sehr begrenzte Begegnungs- und Kontaktmöglichkeiten mit Tieren für Kinder bergen können. Genannt wurden: Freude im Umgang mit Tieren erleben; Ängste abbauen; Rücksichtnahme und Wertschätzung einüben; Wissen über Tiere und ihre Lebensbedingungen erwerben. Werden Tiere hingegen als ein interaktives Element in das bestehende pädagogische Gesamtkonzept eines Kindergartens integriert, so eröffnen sich weitere wertvolle Lernchancen, zumal sich die Zielsetzungen einer tiergestützten Pädagogik mit denen der Bildung für nachhaltige Entwicklung verbinden lassen (n. Otterstedt 2007, S. 359f). Zahlreiche Praxisberichte und Studien legen den Schluss nahe, dass eine positive Kind-Tier-Beziehung die kindliche Entwicklung in unterschiedlichen Kompetenzbereichen günstig beeinflusst (u.a. Olbrich/Otterstedt 2003; Heymann-Szagun 2008; Vernooij/Schneider 2008; Strunz/Thomas 2010). Darüber hinaus ist die reale Begegnung mit Tieren vermutlich ein bedeutsamer Motivationsfaktor für den Erwerb von Basiskompetenzen, die für ein vom Nachhaltigkeitsgedanken geprägtes Denken und Handeln grundlegend sind.
Damit Teilkompetenzen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung bereits schon im Elementarbereich[2] anzubahnen sind, müssen vorschulische Bildungseinrichtungen Lern-, Erfahrungs- und Gestaltungsort zugleich sein (Programm Transfer-21, S. 3; Stoltenberg 2008, S. 4f). Bauernhof-Kindergärten, die Kinder (altersgemäß) in die Lebens- und Arbeitswelt eines Hofes einbinden, sind solche Orte. Kleine Kinder machen hier in einem spannenden Umfeld und in direktem Kontakt mit (Nutz-)Tieren elementare Naturerfahrungen und entdecken ihr Bewusstsein für die Tierwelt und unsere Umwelt. Dies ist der Ausgangspunkt für eine handlungs- und erfahrungsorientierte Vermittlung von Basiswissen über natürliche Zusammenhänge sowie über die Herkunft, Produktions- und Verarbeitungsweise von Lebensmitteln. Zugleich erfahren sich die Kinder, durch ihre aktive Beteiligung am landwirtschaftlichen Geschehen als unverzichtbare, verantwortungsvolle (Mit-)Gestalter der gemeinsamen Lebenswelt, wie die beiden nachfolgenden Interviewausschnitte belegen:
„ Ja, also, die Kinder übernehmen im Prinzip die komplette Stallarbeit. Sie gehen zu den Hasen und wissen genau, was die Hasen zu futtern bekommen. Sie holen selbst Gras von den Wiesen und Feldern, um das dann zu den Hasen zu bringen und trocknen das vorher. Die Kinder holen das Heu und das Stroh, - fahren es in der Schubkarre weg. Sie wissen auch genau was die Schweine bekommen. Sie holen den Mist raus aus dem Stall und lassen unsere Schweine frei laufen; sie fangen die auch wieder mit ein, streicheln sie, bürsten sie ab mit so großen Schrubberbürsten. Also es gibt wirklich eine Menge, wo die Kinder einfach mit einbezogen sind. Aber es wird immer spielerisch im Tagesablauf eingebunden. […] Die Kinder lernen Verantwortung zu übernehmen für jemanden anderes: Dass die Tiere eben betreut werden müssen, ihr Futter regelmäßig erhalten müssen, gepflegt werden müssen, dass da eben nachgeguckt werden muss, ob es dem Tier gut geht, ob es vielleicht krank ist, was es haben könnte. Diese Kontrolle wird täglich von den Kindern übernommen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass die Kinder erst zwischen zwei und sechs Jahren alt sind […] (Leiterin des Bauernhof-Kindergartens in M., 2010).
„ Wenn es etwa einem der Tiere nicht gut geht, so fällt es den Kindern auf, und dann teilen die Kinder das selbst dem Bauern mit: ‚Bauer Rainer, wir haben gesehen, da hinten humpelt ein Schwein! Hast du das schon gesehen?‘ Ihre Anliegen werden ernst genommen. Sie werden eingebunden. Sie übernehmen dafür Verantwortung“ (Muhs in Strunz 2011).
Den Tieren fällt die Rolle eines ‚Miterziehers‘ zu, da sie den Kindern Zuverlässigkeit, Einfühlungsvermögen, Rücksichtnahme, Verzicht, Respekt etc. abverlangen.
Nach Petermann (19953, S. 1023) kann eine Förderung des kindlichen Verhaltens bereits ab dem fünften Lebensjahr erfolgen. Da Tiere bei Kindern überwiegend positive Emotionen[3] hervorrufen, stellen tiergestützt arbeitende Einrichtungen für den Abbau unerwünschter Verhaltensweisen[4] und das Einüben eines positiven Sozialverhaltens ein besonders geeignetes Übungs- und Lernfeld dar. Vernooij und Schneider (2008, S. 25) schreiben: „Erfahrungen von Bindung und Vertrauen, von Zuverlässigkeit und Zuneigung im Umgang mit Tieren, können wertvolle Hilfen auch für zwischenmenschliche Beziehungen sein“. Um eine vertrauensvolle Mensch-Tier-Beziehung zu erfahren, benötigen Heranwachsende Vorbilder, die Orientierung bieten und zu ethisch motiviertem Handeln anregen (vgl. Meves/Illies 1981, S. 72; Langenhorst 2005; Bauer 20064, S. 19ff). Wie dies in der Praxis aussehen kann, zeigt ein weiteres Beispiel aus dem Kindergartenalltag der Wurzelkinder in Krummbek[5]:
„In jeder Kindergartengruppe treten aggressive Umgangsformen gegenüber Gleichaltrigen, aber auch gegenüber Tieren zu Tage. Im Bauernhof-Kindergarten leiten erfahrene Erzieherinnen die Kinder zu einem friedvollen Miteinander sowie zu einem rücksichtsvollen Umgang von Mensch und Tier an. Das Kind entwickelt so allmählich für das Mitgeschöpf Tier ein ‚Gespür‘. Es lernt, mit der Zeit, behutsamer mit anderen Lebewesen umzugehen. Was darf ich? Was darf ich nicht? Und ich denke, dass die Kinder nicht nur empathiefähig werden, sondern zugleich eine enorme Sozialkompetenz entwickeln. […] Es kommt mitunter vor, dass sich mehrere Kinder zusammenschließen, um die Hühner zu jagen. Dann werden sie nicht nur von der Erzieherin davon abgehalten, sondern sie erklärt ihnen, weshalb man die Hühner nicht über die ganze Wiese scheuchen sollte. Die Erzieherinnen und der Landwirt sind Vorbilder im rücksichtsvollen Umgang mit den Tieren. Sie zeigen den Kindern, wie schön es sein kann, sich einem Huhn ganz langsam zu nähern und allmählich das Vertrauen des Tieres zu gewinnen, das sich dann vielleicht ein paar Körner abholt. Solche positiven Erlebnisse motivieren die Kinder, selbst achtsamer im Umgang mit den Tieren zu sein und sich diesen gegenüber rücksichtsvoller zu verhalten“ (Muhs in Strunz 2011).
Grundbedingung ist der Aufbau einer positiven Beziehung zum Tier, was jedoch nur gelingt, wenn Kinder lernen, sich gegenüber dem Tier/den Tieren angemessen zu verhalten und mit ihm/ihnen achtsam umzugehen. Impulsivität sowie ungestümes, lautes Verhalten wird die meisten Tiere eher zu einem abwehrenden Verhalten und schließlich zum Rückzug veranlassen. Das Tier selbst ist damit Korrektiv des problematischen kindlichen Verhaltens. Die Leiterin eines Bauernhof-Kindergartens schildert ihre diesbezüglichen Beobachtungen wie folgt:
„Ja, am Anfang sind alle Kinder sehr euphorisch: ‚Oh, Mensch, endlich ein Tier! Endlich kann ich mal ein Schaf anfassen!‘ Und dann merken die Kinder ganz schnell, dass die Tiere auch selbst darauf reagieren, - auf ihre stürmischen Schritte und auch zum Teil sich wegdrehen oder doch mal mit ihrem Bein ausschlagen. Und für die Kinder ist es eben ganz wichtig, dass sie da begleitet werden. Dass sie nicht so eine Angst aufbauen, sondern dass sie diesen Umgang lernen und das Tier als solches respektieren mit seinen eigenen Bedürfnissen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei uns in der Arbeit“ (Leiterin des Bauernhof-Kindergartens in M., 2010).
Vermutlich lässt sich das in der Interaktion mit dem Tier Gelernte auf andere Situationen übertragen, sodass soziale Kontakte mit Menschen zunehmend positiver gestaltet werden können. Doch werden im Umgang mit Tieren nicht nur Rücksichtnahme und Empathie geübt, sondern es können zugleich sozial angemessene Formen der Selbstbehauptung erlernt werden, wie diese Zitate belegen:
„ Also am Anfang war da eine gewisse Scheu, Angst da. Aber, das muss man sagen, das hat sich abgebaut. Also die Kinder holen jetzt schon mal einen Hasen und trauen sich, ihn sich auf den Schoß zu setzen. Sie wissen, dass sie mal gekratzt werden können. Das macht ihnen aber nichts aus. Genauso wie sie jetzt die Eier holen. Am Anfang haben sie die Erfahrung gemacht, dass die Hühner sie picken können. Einigen Kindern macht das gar nichts aus. Andere ziehen ihre Winterschuhe an. […]“ (Auszug aus dem in B. geführten Experteninterview, 2010).
In vergleichbarer Weise äußerte sich eine andere Interviewpartnerin:
„Ja, auf jeden Fall: Dass die Kinder wesentlich mehr Vertrauen und Selbstbewusstsein entwickeln, wenn sie mit den Tieren umgehen und das auch so zu Hause erzählen: ‚Mensch, ich war heute bei den Schweinen drin!‘ Dass sie also wirklich so ein bisschen stolz sind und Vertrauen in ihre eigene Person haben, das melden die Eltern schon zurück“ (Leiterin des Bauernhof-Kindergartens in M., 2010).
In der intensiven Beschäftigung mit dem Tier/den Tieren kann die Wahrnehmung zugleich auf bestimmte Dinge gelenkt werden (z.B. kann das Kind die Körpersprache des Tieres ‚lesen‘ lernen oder das Sozialverhalten einer Tierfamilie beobachten). Selbst Tiere, denen man sich nicht nach Belieben nähern kann um sie zu streicheln, eignen sich hierfür. Durch gezielte Lenkung der Wahrnehmung (z.B. konzentriertes Hinhören; behutsames Abtasten; bewusstes ‚Erschnuppern’; aufmerksames Beobachten) entdecken Kinder häufig bislang nicht Wahrgenommenes.
„Wir regen die Kinder aber auch zum Beobachten an: „Guck mal! Warum kommt dieses Huhn denn nicht?“ Unsere Erzieherin hat ein Talent selbst auf Kleinigkeiten hinzuweisen: „Sagt mal, die Hühner, haben die eigentlich Ohren? Wo sind denn die Ohren? Die wollen wir mal suchen!“ (Muhs in Strunz 2011).
Im Kontakt mit Tieren erhöht sich die Selbstaufmerksamkeit, sodass die Selbstwahrnehmung der Kinder steigt. Der Vergleich von ‚Mensch und Tier‘ liefert Informationen über den eigenen Körper, über artspezifische Verhaltensweisen und (begrenzte menschliche) Fähigkeiten. So machen „die Kinder zum Beispiel den ‚Schreitest‘, um herauszufinden, ob Schweine oder Kinder lauter schreien können“ (Muhs, 2010). Allmählich entwickelt sich ein realistisches Bild von den eigenen Stärken und Schwächen (vgl. Schwarzkopf/Olbrich 2003, S. 264). „Formen verzerrter Wahrnehmung von sich selbst, von anderen, von Situationen, zum Beispiel bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten, können im Kontakt mit dem Tier deutlich werden und in einem behutsam unterstützenden Prozess unter Umständen korrigiert werden“ (Vernooij/Schneider 2008, S. 113).
Kinder nehmen ab dem 4. Lebensjahr von sich aus spielerisch Kontakt zu Tieren auf und versuchen eine Beziehung zum Tier aufzubauen (Zemanek 1992, S. 4). Allerdings entwickeln nicht alle Kinder positive emotionale Bindungen zu Tieren beziehungsweise können die damit verbundenen Gefühle angemessen zum Ausdruck bringen (vgl. Meves/Illies, 1981, S. 72; Gebhard 1994, S. 100). Neben den maßgeblichen kulturellen Deutungsmustern sind es die auf biographischen Erfahrungen basierenden individuellen Wertvorstellungen, die die Einstellung eines Kindes zur Mitwelt prägen (Gebauer/Nobuyuki 2005, S. 59; Hüther 2005, S. 220). So resultiert beispielsweise ein negatives Naturkonzept auf negativen Erlebnissen sowie auf einem anregungs- und handlungsarmen Lernumfeld (Gebauer/Nobuyuki 2005, S. 57). Dass dies für die verantwortlichen Erzieherinnen besondere Herausforderungen mit sich bringt, wurde im Gespräch deutlich:
[...]
[1] Bislang unveröffentlichte Ergebnisse einer Untersuchung, an der Kindergärten mit und ohne Tierhaltung teilnahmen (Publikation: 2011).
[2] Eine Auflistung der relevanten Teilkompetenzen findet sich unter:
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) (2009, S. 25ff). Bildung für nachhaltige Entwicklung für die Grundschule. Forschungsvorhaben Bildungsservice des Bundesumweltministeriums. Online verfügbar unter: http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/bne_grundschule.pdf
Ein Überblick über die Teilkompetenzen der Gestaltungskompetenz findet sich auch in der Broschüre Programm Transfer-21 (S. 8ff).
[3] Gebauer/Nobuyuki (2005, S. 45) und Zemanek (1992, S. 13) weisen darauf hin, dass Tiere durchaus auch negative Reaktionen (Angst, Ekel etc.) bis hin zu Phobien hervorrufen können. Die primäre Angst vor Tieren nimmt, so das Ergebnis diverser Untersuchungen, mit fortschreitendem Alter jedoch ab; so ist bei Kindern ab dem 3. Lebensjahr eine Zunahme des Vertrauens gegenüber Tieren festzugestellen (n. Gebhard 1994, S. 107).
[4] Was unter negativem beziehungsweise positivem Sozialverhalten verstanden wird, unterliegt der subjektiven Wahrnehmung, den Einstellungen, Auffassungen und Bewertung der involvierten Personen (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 1999, S. 9f).
[5] Weitere Informationen zum Kindergarten ‚Wurzelkinder e.V.‘: www.hofschlachterei-muhs.de