Zwischen den 50ern und 80ern Jahren wurden einige Theorien begründet, die sich auf die Berufswahl und die Laufbahnentwicklung beziehen. Die etabliertesten Modelle stellen hierbei die Theorie von beruflichen Interessen und Persönlichkeitstypen nach Holland, der Lebensraum-, Lebenszeitansatz der Laufbahnentwicklung nach Donald Super und die Theorie der Eingrenzung und Kompromissbildung nach Gottfredson dar. Diese klassischen Theorien haben gemein, dass sie sich auf das Individuum fokussieren und Umwelteinflüsse weitgehend außen vorlassen. In den vergangenen 15 Jahren haben sich jedoch neue Strömungen der Berufswahl- und Laufbahnforschung herausgebildet, welche die klassischen Theorien um Kontext- und Umweltfaktoren ergänzen. Eines dieser neueren Modelle stellt die Happenstance Learning Theory dar. Neben weiteren Umwelteinflüssen, ist der Zufall das zentrale und bestimmende Element beruflicher Laufbahnen.
In der vorliegenden Arbeit soll die Frage geklärt werden, welche Rolle der Zufall für Berufsverläufe spielt und ob die Happenstance Learning Theory als solche eine Existenzberechtigung hat. Ziel dieser Arbeit soll somit sein, anhand der Happenstance Learning Theory zu klären, welche Bedeutung dem Zufall bei der Berufswahl und bei der Laufbahnentwicklung zukommt, wie sich diese theoretischen Überlegungen auf die praktische Berufsberatung übertagen lassen und wie relevant diese Theorie aktuell ist.
Zum nähren Verständnis wir zunächst auf die Theorien eingegangen, welche der Happenstance Learning Theory als Fundament dienten. Da es sich bei der Happenstance Learning Theory per se um eine äußerst praxisorientierte Theorie handelt, nehmen die praktischen Implikationen einen vergleichsweise großen Teil dieser Ausarbeitung ein.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Vorüberlegungen
2.1. Sozial-kognitive Lerntheorie
2.2. Soziale Lerntheorie der Laufbahnentwicklung
3. Happenstance Learning Theory
3.1 Allgemeines zur Happenstance Learning Theory
3.2 Konzepte der Happenstance Learning Theory
4. Praktische Implikationen
4.1 Die vier Prinzipien der Happenstance Learning Theory
4.3 Instrumente zur Umsetzung in der Beratungspraxis
4.4 Idealtypischer Ablauf der Berufsberatung
4.5 Implikationen für die schulische Bildung
5. Relevanz der Happenstance Learning Theory
6. Schlussbetrachtung
XII. Literaturverzeichnis
1.Einleitung
Zwischen den 50ern und 80ern Jahren wurden einige Theorien begründet, die sich auf die Berufswahl und die Laufbahnentwicklung beziehen. Die etabliertesten Modelle stellen hierbei die Theorie von beruflichen Interessen und Persönlichkeitstypen nach Holland, der Lebensraum-, Lebenszeitansatz der Laufbahnentwicklung nach Donald Super und die Theorie der Eingrenzung und Kompromissbildung nach Gottfredson dar. Diese klassischen Theorien haben gemein, dass sie sich auf das Individuum fokussieren und Umwelteinflüsse weitgehend außen vorlassen. In den vergangenen 15 Jahren haben sich jedoch neue Strömungen der Berufswahl- und Laufbahnforschung herausgebildet, welche die klassischen Theorien um Kontext- und Umweltfaktoren ergänzen (Hirschi, 2013). Eines dieser neueren Modelle stellt die Happenstance Learning Theory dar. Neben weiteren Umwelteinflüssen, ist der Zufall das zentrale und bestimmende Element beruflicher Laufbahnen (Krumboltz, 2009). In der vorliegenden Arbeit soll die Frage geklärt werden, welche Rolle der Zufall für Berufsverläufe spielt und ob die Happenstance Learning Theory als solche eine Existenzberechtigung hat. Ziel dieser Arbeit soll somit sein, anhand der Happenstance Learning Theory zu klären, welche Bedeutung dem Zufall bei der Berufswahl und bei der Laufbahnentwicklung zukommt, wie sich diese theoretischen Überlegungen auf die praktische Berufsberatung übertagen lassen und wie relevant diese Theorie aktuell ist.
Zum nähren Verständnis wir zunächst auf die Theorien eingegangen, welche der Happenstance Learning Theory als Fundament dienten. Da es sich bei der Happenstance Learning Theory per se um eine äußerst praxisorientierte Theorie handelt, nehmen die praktischen Implikationen einen vergleichsweise großen Teil dieser Ausarbeitung ein.
2. Theoretische Vorüberlegungen
2.1 Sozial-kognitive Lerntheorie
Die sozial-kognitive Lerntheorie ist eine verhaltensbezogene Theorie, welche davon ausgeht, dass Individuen durch Erfahrungen lernen. Allerdings ist die sozial-kognitive Lerntheorie nicht rein verhaltensbezogen, sondern es gibt vermittelnde kognitive Prozesse. Laut Bandura interagieren Umwelteinflüsse, gezeigtes Verhalten, kognitive, genetische und andere intrapersonelle Faktoren, wie Motivation und Emotion. All diese Determinanten bedingen sich gegenseitig (Bandura, 1991). Das interdependente Verhältnis dieser Faktoren bezeichnet Bandura als triadischen reziproken Determinismus (ebd., 1986).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Schematische Darstellung des triadischen reziproken Determinismus
Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Jonas & Brömer, 2002
Bandura postuliert, dass Menschen zu vorausschauenden Denken fähig sind und sie ihr eigenes Verhalten reflektieren können (Bandura, 1986). Dies wiederum führt dazu, dass sie ihr Verhalten selbstreguliert steuern können und in der Lage sind am Modell zu lernen (ebd., 2001). Als Modelllernen bezeichnet Bandura den Prozess, durch welchen Individuen Kompetenzen rein durch Beobachtungen erwerben. Der Beobachtungsprozess bezieht sich hierbei auf das Verhalten andere Menschen und auf die Konsequenzen, die dem entsprechenden Verhalten folgen. Verstärkung oder Bestrafung sind somit förderlich um Lernen zu beeinflussen, allerdings sind dies keine zwingende Voraussetzung für den Lernprozess (ebd., 1986). Als Selbstregulation wird die Steuerung der Motivation, Emotion und des Handelns durch das Individuum selbst verstanden. Die Selbstregulation erfolgt auf der Basis interner Standards und des gezeigten Verhaltens. Werden die internen Standards vollständig erfüllt, ergibt sich ein Gefühl der Zufriedenheit, die Nichterfüllung führt zu Unzufriedenheit (Jonas & Brömer, 2002).
2.2 Soziale Lerntheorie der Laufbahnentwicklung
Die soziale Lerntheorie der Laufbahnentwicklung stützt sich auf die Thesen der sozial-kognitiven Lerntheorie (Lang-von Wins, 2012). Krumboltz Intention war es hierbei die Gedanken Banduras auf den Kontext der beruflichen Laufbahn zu übertragen (Krumboltz, Mitchell & Jones, 1976). Bei der sozialen Lerntheorie ist die Frage zentral, warum Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten (Krumboltz, 2009). Genauer gesagt versucht sie zu erklären, wie bildungsbezogene und berufliche Präferenzen gebildet und wie berufliche Entscheidungen getroffen werden. Die soziale Lerntheorie besagt, dass menschliches Verhalten und somit auch die Berufswahl das Ergebnis einer endlosen Anzahl an Lernerfahrungen sei. Dabei sind sechs verschiedenen Einflussfaktoren prägend (Krumboltz, Mitchell & Jones, 1976).
1) Genetische Einflüsse, die in Form von natürlichen oder erblichen Anlagen, das Geschlecht, die Interessen oder die kognitiven und motorischen Fähigkeiten beeinflussen (ebenda). Welchen Einfluss der Genpool auf Talente, Begabungen und die allgemeine Intelligenz nimmt, ist nicht geklärt, da sich diese Konstrukte immer in Interaktion mit der Umwelt bilden (Mitchell, 1979). Nichtdestotrotz steht fest, dass genetische Anlagen Menschen in jeder Lebenslage, auch im beruflichen Kontext beeinflussen. So können angeborene körperliche oder geistige Beeinträchtigungen beispielsweise dazu führen, dass die Anzahl der potentiellen Berufe stark eingeschränkt werden muss (Krumboltz, Mitchell & Jones, 1976).
2) Lernerfahrungen, die im Rahmen der operanten Konditionierung in Form von Belohnung oder Bestrafung für ein bestimmtes Verhalten erlebt wurden, führen dazu, dass Menschen ihre Talente identifizieren und weiter ausbauen können (Krumboltz, 2009) und (Patton & McMahon, 2014). Außerdem lernen Menschen am Modell, durch die Beobachtung der Umwelt und der Mitmenschen. Das Resultat des Lernprozesses bewerten Individuen nicht nur über eine Selbsteinschätzung, sondern sie setzen die individuelle Leistung mit den Ergebnissen anderer in Relation (Krumboltz, Mitchell & Jones, 1976). Beide Formen des Lernens führen dazu, dass Menschen berufliche Präferenzen und Fähigkeiten aufbauen, die sich auf die Karriereplanung auswirken (Patton & McMahon, 2014).
3) Spezifische Umweltbedingungen und –ereignisse prägen Individuen bei beruflichen Entscheidungen. Die Umweltbedingungen können in Form von kulturellen, sozialen, politischen oder ökonomischen Rahmenbedingungen von Menschen geschaffen oder von der Natur vorgegeben sein (ebenda). Umweltereignisse sind ganz konkrete Vorkommnisse im Umfeld der Individuen, welche diese zum Nachdenken anregen (Krumboltz, 1996). In der Regel können einzelne Individuen die Umweltbedingungen und -eregnisse nur bedingt steuern. Einige dieser Umweltfaktoren wirken sich direkt oder indirekt auf die beruflichen Präferenzen, Fähigkeiten, Pläne und Aktivitäten aus (Krumboltz, Mitchell & Jones, 1976).
4) Eltern oder Erziehungsberechtigte wirken von Geburt an auf die Entwicklung ihres Kindes ein. Die Art und Weise wie Eltern mit ihren Kindern umgehen führt zu Verhaltensmuster, die im Erwachsenenalter sehr schwer abgelegt oder verändert werden können. Diese Verhaltensmuster können für die berufliche Laufbahn entweder zuträglich oder hinderlich sein. Vor allem bei Heranwachsenden nehmen die elterlichen Erwartungen und Einstellungen signifikanten Einfluss auf die beruflichen Entscheidungen (ebenda).
5) Peer-Group, darunter versteht man einen Zusammenschluss von Gleichaltrigen. In der Regel haben die Mitglieder einer Peer-Group dieselben Interessen, die gleiche Herkunft oder denselben sozialen Status (Krumboltz, 2009). Es handelt sich somit um den engeren Freundeskreis. Neben der Familie nehmen Peers den größten sozialen Bezugsrahmen ein und beeinflussen somit ebenfalls die Einstellungen und das Verhalten eines Individuums (Krumboltz, Mitchell & Jones, 1976).
6) Strukturierte Lernereignisumgebung, die in Institutionen wie der Schule, der Universität oder dem Ausbildungsbetrieb angetroffen werden, versuchen die Lernenden nach ihren Ansprüchen, Anforderungen und Zielen abzurichten. Dadurch werden zum einen berufliche Kompetenzen aufgebaut, zum anderen werden die individuellen Wünsche und Ziele auch häufig denen der Institutionen angepasst (Dreer, 2013) und (Krumboltz, Mitchell & Jones 1976).
Die genetischen Anlagen, die verschiedenen exogenen Umwelteinflüsse, die Lernerfahrungen, die emotionalen und kognitiven Kompetenzen, sowie das tatsächlich gezeigte Verhalten bedingen sich selbst und stehen in permanenter Interaktion. Es wird angenommen, dass ein Individuum an jeden bildungsbezogenen oder beruflichen Entscheidungspunkt zwischen verschiedenen Alternativen wählen kann (ebenda). Der Entscheidungsprozess zielt darauf ab, die Alternative zu identifizieren, welche auf langfristige Sicht die besten Konsequenzen mit sich bringt. Die beschrieben personalen und exogenen Faktoren wirken dabei im interpendenten Verhältnis auf die Entscheidungsfindung des Individuums ein (Krumboltz, 1994). Nachdem eine Alternative gewählt wurde, reflektieren Menschen ihre Entscheidung in regelmäßigen Abständen (Krumboltz, Mitchell & Jones, 1976).
3. Theoriebasierte Erläuterungen zur Happenstance Learning Theory
3.1 Allgemeines zur Happenstance Learning Theory
Die Happenstance Learning Theory wurde 2009 von John Krumboltz als Weiterentwicklung der sozialen Lerntheorie veröffentlicht. Es handelt sich hierbei um einen Ansatz, welcher zu erklären versucht, wie und warum Menschen divergierende berufliche Wege einschlagen und wie die professionelle Berufsberatung diesen Prozess unterstützen kann (Krumboltz, 2009). Das Fundament der Happenstance Learning Theory basiert darauf, dass menschliche Verhaltensweisen, wie in der sozial-kognitiven und in der sozialen Lerntheorie beschrieben, das Ergebnis einer endlosen Anzahl an Lernerfahrungen sind. Diese Erfahrungen resultieren sowohl aus geplanten und ungeplanten Situationen (Hirschi, 2013a). Die Summe all dieser Lernerfahrungen stellt letztendlich die Basis für die individuellen Kompetenzen, Interessengebiete, Präferenzen sowie die motivationale, emotionale und soziale Orientierung dar (Dreer, 2013). Menschen sind permanent verschiedenen Situationen in privaten und beruflichen Kontexten ausgesetzt, welche allesamt als potentielle Chance angesehen werden können. Diese Situationen werden einerseits von Faktoren, die das Individuum nicht selbst beeinflussen kann und andererseits von bewusst eingeleiteten Verhaltensweisen bestimmt. Das Zusammenspiel zwischen geplanten und ungeplanten Verhaltensweisen als Reaktion auf selbst herbeigeführte und aufgefundene Situationen ist äußert komplex. Das hat zur Folge, dass die Konsequenzen einzelner Situationen praktisch nicht zu prognostizieren sind und am besten als Zufall bezeichnet werden können (Hirschi, 2013a). Der Zufall stellt das zentrale Element und die Weiterentwicklung zur sozialen Lerntheorie dar (Krumboltz, 2009). Berufliche Laufbahnen sind somit nur teilweise als Resultat von Planungsprozessen oder durchdachten Entscheidungen zu verstehen (Sickendiek, 2011). Neben dem Zufall wirken sich die in der sozialen Lerntheorie identifizierten Einflussfaktoren ergänzend auf Berufsverläufe aus (Krumboltz, 2009).
Die Gesellschaft legt viel Wert auf Entschlossenheit bei der beruflichen Planung (Krumboltz & Levin, 2010). Dem widerspricht die Happenstance Learning Theory allerdings grundlegend, statt der Entschlossenheit, wird vielmehr die Offenheit als wünschenswerter Zustand determiniert (Krumboltz, 2009). Aufgrund einer imponderablen Zukunft ist Offenheit besser, als die Verpflichtung sich an einen vorher gefassten Plan zu halten (Nestmann, 2011). Entsprechend diesem theoretischen Ansatz soll das Ziel der Laufbahnberatung sein, günstige Situationen zu generieren, diese als solche zu erkennen und in die Laufbahnentwicklung zu inkludieren (Hirschi, 2008).
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