Die Geschichte der Eidgenossenschaft. Es gibt zahlreiche Bücher zu diesem Thema. Und doch scheint es, als ob die Eidgenossen eigentlich gar nicht so recht Bescheid wissen über ihre Geschichte. Ich fragte einmal aus Jux in meinem Familien- und Freundeskreis herum, wie jetzt die Eidgenossenschaft entstanden ist und was schon wieder an der Schlacht am Morgarten passiert ist und überhaupt: was geschah anfangs August 1291? Die Antworten wa- ren ernüchternd. Oft war die Rede von einem eidgenössischen Befreiungskampf gegen die Habsburger (wenn überhaupt!). Von einem König oder gar Kaiser wusste niemand etwas, von den zahlreichen inneren Konflikten ganz zu schweigen. Meine dunklen Vorahnungen hatten sich bestätigt: Die Schweizer wissen nichts von ihrer eigenen Vergangenheit. Das erstaunt wenig – in anderen Ländern kennen die Bewohner ihre die Entstehungsgeschichte sicherlich auch nicht auswendig1. Erstaunlich ist es vor allem in einem Land, dass sich im 19. und 20. Jahrhundert stark auf die Alte Eidgenossenschaft bezog, weil damit die jeweilig aktuelle Lage gedeutet werden soll. Ganz klar: die Alte Eidgenossenschaft galt und gilt vielleicht immer noch als Politikum, spätestens wieder dann, wenn am 1. August die Festredner jeglicher Par- teien die alten Geschichten hervorholen, um sie dann mit aktuellen Problemlagen in Verbin- dung zu bringen.
Im Folgenden wird mit einem ersten Teil ein kurzer geschichtlicher bzw. gesellschaftspoliti- scher und wirtschaftlicher Überblick geschaffen, der für den anknüpfenden zweiten Teil als Grundlage dient. Sodann nehme ich konkreten Bezug auf den Bundesbrief und die Frage, ob 1291 als Mythos bezeichnet werden kann. Es wird deutlich werden, dass wir es mit einem Gründungsmythos zu tun haben. Zum Schluss stellt sich die Frage nach der nationalen Identi- tät: Es soll aufgezeigt werden, wie der Bezug auf die Alten Eidgenossen auf die Konstruktion einer Identität Einfluss übt. Im Rückbezug auf die Altvordern entsteht nämlich nationale Identität – im Beispiel der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert sogar sehr stark.
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Gründungszeit - Zur Entstehung der Eidgenossenschaft
Die Eidgenossenschaft um 1400
Die Eidgenossenschaft als Mittelpunkt Europas
Hunger
Die Pest
Wirtschaftliches - Alpenwirtschaft - Krise
Städte - Demographie
1291 - ein Mythos?
Der Bundesbrief von 1291
Vergangenheitsbedarf im 19. Jahrhundert
Schluss
Literaturverzeichnis (und Hinweise)
Einführung
Die Geschichte der Eidgenossenschaft. Es gibt zahlreiche Bücher zu diesem Thema. Und doch scheint es, als ob die Eidgenossen eigentlich gar nicht so recht Bescheid wissen über ihre Geschichte. Ich fragte einmal aus Jux in meinem Familien- und Freundeskreis herum, wie jetzt die Eidgenossenschaft entstanden ist und was schon wieder an der Schlacht am Morgarten passiert ist und überhaupt: was geschah anfangs August 1291? Die Antworten wa- ren ernüchternd. Oft war die Rede von einem eidgenössischen Befreiungskampf gegen die Habsburger (wenn überhaupt!). Von einem König oder gar Kaiser wusste niemand etwas, von den zahlreichen inneren Konflikten ganz zu schweigen. Meine dunklen Vorahnungen hatten sich bestätigt: Die Schweizer wissen nichts von ihrer eigenen Vergangenheit. Das erstaunt wenig - in anderen Ländern kennen die Bewohner ihre die Entstehungsgeschichte sicherlich auch nicht auswendig1. Erstaunlich ist es vor allem in einem Land, dass sich im 19. und 20. Jahrhundert stark auf die Alte Eidgenossenschaft bezog, weil damit die jeweilig aktuelle Lage gedeutet werden soll. Ganz klar: die Alte Eidgenossenschaft galt und gilt vielleicht immer noch als Politikum, spätestens wieder dann, wenn am 1. August die Festredner jeglicher Par- teien die alten Geschichten hervorholen, um sie dann mit aktuellen Problemlagen in Verbin- dung zu bringen.
Im Folgenden wird mit einem ersten Teil ein kurzer geschichtlicher bzw. gesellschaftspoliti- scher und wirtschaftlicher Überblick geschaffen, der für den anknüpfenden zweiten Teil als Grundlage dient. Sodann nehme ich konkreten Bezug auf den Bundesbrief und die Frage, ob 1291 als Mythos bezeichnet werden kann. Es wird deutlich werden, dass wir es mit einem Gründungsmythos zu tun haben. Zum Schluss stellt sich die Frage nach der nationalen Identi- tät: Es soll aufgezeigt werden, wie der Bezug auf die Alten Eidgenossen auf die Konstruktion einer Identität Einfluss übt. Im Rückbezug auf die Altvordern entsteht nämlich nationale Identität - im Beispiel der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert sogar sehr stark.
Gründungszeit - Zur Entstehung der Eidgenossenschaft
Die Entstehung eines Nationalstaates ist ein durch und durch komplexer Ablauf. Noch komplexer scheint es jedoch um die Eidgenossenschaft zu stehen. Wer denkt, die jetzige Konstellation mit 26 Kantonen in einem föderalistischen Staatenkomplex mit demokratischer Verfassung existiere schon seit Hunderten von Jahren, denkt falsch. Auch die Vorstellung von einem mehr oder weniger harmonischen Gebilde im 14. Jahrhundert ist weit weg von der Realität. Ich werde mich im Folgenden möglichst kurz halten in einer angebrachten Darstel- lung der wichtigsten Ereignisse:
Die Eidgenossenschaft hat ihre Anfänge im frühen 14. Jahrhundert mit den drei Län- dern Uri, Schwyz und Unterwalden. Das Gebiet der heutigen Schweiz war durchzogen von vielen verschiedenen Herrschaftsgebieten - Königliche Vogteien, Besitzungen von Lokaladel und nicht zu unterschätzen: Klöster. Neben den Ländern gab es (Reichs-) Städte, die bereits eine beachtliche Grösse aufwiesen: Bern, Zürich und Luzern werden in der Folge eine wichti- ge Rolle für die Entstehung der Eidgenossenschaft einnehmen, aber auch Basel, indem sie sich ihnen später anschliessen. Die Eidgenossenschaft wird nunmehr auch als militärischer Faktor im übrigen Europa notiert.
Im Norden ist das Heilige Römische Reich Deutscher Nation mit einem König; im Nordosten wächst das Habsburgerreich. Beide Parteien besitzen Ländereien oder gar Städte (Reichstädte wie Zürich oder Luzern) im Gebiet der heutigen Schweiz. Mit Mailand haben die Innerschweizer einen wichtigen Handelspartner im Süden; im (Süd-)Westen herrschen die Burgunder und Savoyer - Frankreich ist zu dieser Zeit noch nicht auf dem Zenit der Macht angekommen (was sich dann noch ändern wird!). Wichtig ist vor allem, dass die Orte in der späteren Eidgenossenschaft in regem (wirtschaftlichen) Kontakt mit ihren Herrschern stehen. Das heisst aber nicht, dass das ganze Gebiet der heutigen Schweiz bereits beherrscht war: es gab durchaus Gebiete, die mehr oder weniger autonom verwaltet wurden. Und so gelangen wir wieder in die Innerschweiz als Wiege der Eidgenossenschaft, zu den unabhängigen Tal- kommunen Uri, Schwyz und Unterwalden, auch bekannt als die Drei Waldstätte.
Nachdem 1291 bzw. 1315 die Drei Waldstätte ihren Bund schliessen, treten nachei- nander die Stadt Luzern (1332), Stadt Zürich (1351), Land Glarus (1352), Stadt und Land Zug (1352) und die Stadt Bern (1353) dem Bund hinzu - dieses Bündnisgeflecht nennt sich die Eidgenossenschaft der „Acht Orte“. Bündnisgeflecht aus dem Grund, weil jeder Ort unter- schiedliche Bündnisse mit den anderen Bündnispartnern hat. In einem zweiten Schub kom- men dann die Stadt Freiburg im Üechtland (1481) sowie die Stadt Solothurn hinzu und bilden zusammen die Eidgenossenschaft der „zehn Orte“. Bald schliessen sich die Stadt Basel (1501) und die Stadt Schaffhausen (1501) der Eidgenossenschaft an, die mittlerweile „12 Orte“ hat.
Als vorerst letztes Mitglied trat das Land Appenzell (1513) der Eidgenossenschaft bei. Zur Eidgenossenschaft zählten zusätzlich die Untertanengebiete der jeweiligen Orte sowie Gebie- te der „Gemeinen Herrschaft“. Zu letzterem zählten z.B. das Freiamt, Baden, Murten, Bel- linzona, das Maggiatal, Rapperswil und andere. Sie wurden meist bei Kriegen erobert und somit gemeinsam verwaltet. Daneben existierten noch die „Zugewandten Orte“: Sie gehörten weder zur Eidgenossenschaft noch waren sie Untertanengebiet - man ging eine Partnerschaft ein ohne aber als Vollmitglied in Eidgenossenschaft aufgenommen zu werden. Zugewandte Orte waren z.B. St. Gallen, Biel, der Freistaat der Drei Bünde (Graubünden), die Republik Wallis, Genf , Fürstbistum Basel und andere.
Vollmitglieder und Zugewandte Orte schlossen Verträge bzw. Bündnisse. Doch was wurde in einem Bündnis genau beschlossen? Es waren vor allem multi- oder bilaterale Ab- kommen zwischen den einzelnen Orten. Sie dienten der gegenseitigen Hilfe aber auch der gegenseitigen Kontrolle. Der Bund von 1291 bzw. 1315 regelte hauptsächlich die Landfrie- denswahrung und sicherte den lokalen Führungsgruppen die privilegierte Stellung. Die Ab- kommen wurden stetig erneuert, doch „mehrere oder alle Orte der Eidgenossenschaft umfas- sende Vereinbarungen bestanden demgegenüber nur ganz vereinzelt“2 - Ausnahmen bilden der Pfaffenbrief (1370), der Sempacherbrief von 1393 sowie das Stanser Verkommnis von 1481. Eine gemeinsame Institution, die Orte übergreifend handelt, fehlte - auch die später eingeführte Tagsatzung hatte nur beschränkten Einfluss: die Gesandten waren lediglich Funk- tionäre. Die Eidgenossenschaft ist zu dieser Zeit immer noch ein kleines Gebilde. Ganz pas- send formuliert das Sablonier:
Um 1370 bildeten die eidgenössischen Kleinstaaten, deren territorialer Ausbau eben erst richtig eingestetzt hatte, noch kaum mehr als einzelne Flecken auf der buntscheckigen politischen Landkarte des heute schweizerischen Gebietes.3
Sablonier spricht das an, was als nächstes geschieht: Territorialexpansion. So kann sich die Eidgenossenschaft in den Burgunderkriegen (unter der Führung von Bern) gegen Westen hin behaupten und das heutige Waadtland erobern. Des Weiteren findet eine nach Süden und Norden gewandte Expansion statt, die mit dem Schwabenkrieg 1499 endet.
Es wird klar, dass es sich bei der Alten Eidgenossenschaft (wie sie später genannt wird) um ein äusserst komplexes Gebilde mit vielen einzelnen Bündnissen und Verträgen handelt. Keineswegs bestand immer ein Konsens, keineswegs fühlte sich ein Zürcher von Anfang verbunden mit den Schwyzern oder Bernern: Die Eidgenossenschaft war denn auch funktional.
Die Eidgenossenschaft um 1400
Es ist durchaus sinnvoll, die Situation um 1400 von mehreren Seiten her anzuschauen, so wird auch klar, wieso sich zum Beispiel die Bauern im Marchenstreit gegen das Kloster Ein- siedeln gewendet haben4. Im Folgenden sollen darum in kurzen Unterkapiteln verschiedene Aspekte aus der Zeit um 1400 herausgegriffen werden: Die Zeit war geprägt von Krisen: Hunger und Pest zogen über die Länder, nicht nur im Gebiet der heutigen Schweiz. Aus der Krise geht meist eine bessere Konjunktur hervor: es war also auch eine Zeit des wirtschaftli- chen Wachstums, des Umdenkens. Konjunktur war sichtbar in den ländlichen Gebieten, wie auch in den Städten. Die Städte waren schon damals Zentrum für Kultur und Dienstleistungs- gesellschaft. Wie es scheint, war die Schweiz ein äusserst städtereiches Gebiet. In einem letz- ten Unterkapitel soll die demographische Situation um 1400 erläutert werden.
Die Eidgenossenschaft als Mittelpunkt Europas
Der Kleriker und Humanist Albrecht von Bonstetten aus Einsiedeln hat 1479 die Eidgenos- senschaft in Europa positioniert als Mittelpunkt Europas, als Schnittpunkt zwischen Gallia, Alamania und Italia. Die Rigi wiederum bildet das Zentrum der damals noch acht eidgenössi- schen Orte und damit auch von Europa. Damals „stellt seine Sicht den ersten Versuch dar, den Raum der Eidgenossenschaft geographisch zu strukturieren und in die europäische Geo- graphie einzuordnen.“5
Hunger
Hungersnöte waren in Europa keine Seltenheit. Ständig gab es Missernten, die auch auf die klimatischen Veränderungen zurückzuführen sind. Nahrungsmittel wurden meistens selbst produziert; Konservierungsmethoden gab es wenige und die waren kostspielig. Ebenso war der Lebensmittelimport sehr teuer und nur beschränkt möglich. Um 1400 nagt ein sehr gros- ser Teil der Bevölkerung am Hungertuch. Trotz Einführung der Dreifelderwirtschaft und neu- er Anbaumethoden konnte die Verknappung der Lebensmittel nicht verhindert werden, weil wir im Hochmittelalter gleichzeitig ein Bevölkerungswachstum verzeichnen können.
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1 Zum Vergleich: USA: Guggisberg, Hans R.: Traditionen und Ideale nationaler Identität in den USA. In: Krzysztof Baczkowski, Christian Simon (Hg.): Historiographie in Polen und in der Schweiz. Kraków: Nakł. Uniw. Jagiellońskiego, 1994. S. 73-101. - Frankreich: Simon, Christian: Identität durch Geschichte im Nationalstaat. Zum Geschichtsbedarf in Frankreich. In: Ders. S. 103-120.
2 Sablonier 1999b: 10.
3 Sablonier 1999b: 13.
4 Zum Marchenstreit: Sablonier, Roger: Gründungszeit ohne Eidgenossen: Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300. Baden: hier + jetzt, 2013.
5 Marchal 1994: 116.